(cb) Wenn man den Begriff Tagebuch im Zusammenhang mit hohen Nazi-Funktionären hört, ist meistens Vorsicht angebracht. Der Satirefilm "Schtonk" zeigt das bekanntlich auf formidabelste Weise. Jene Dienstkalender von Heinrich Himmler, die verschollen geglaubt waren und nun in einem russischen Archiv gefunden wurden, dürften allerdings echt sein. Obwohl, "nun" ist nicht das richtige Wort: Der Fund im russischen Militärarchiv Podolsk liegt schon einige Jahre zurück, wurde aber bisher nicht öffentlich gemacht. Das Deutsche Historische Institut Moskau (DHI) will diese Dienstkalender für die Kriegsjahre 1943 bis 1945 der Öffentlichkeit zugänglich machen. Die zweibändige Edition soll Ende 2017 erscheinen. Die Kalender der Jahre 1940 und 1941/42 liegen bereits in eigenen Ausgaben vor. Das DHI arbeitet bereits seit 2013 an diesem neuen Projekt. Die "Bild"-Zeitung bringt seit Montag Auszüge aus den Tagebüchern als Serie.
Der rekapitulierte 3. Jänner 1943 sieht in Himmlers Aufzeichnungen dann zum Beispiel so aus: 10 Uhr bis Mittag: Massage. 14 Uhr: Mittagessen mit SS-Offizieren. 15 bis 19 Uhr: Strategie-Besprechung. 20 Uhr: Abendessen. 21 Uhr: Weitere Besprechungen, unter anderem über Polizisten in Polen, die den Kampf für Deutschland verweigern. 21 bis 22 Uhr: Befehl, alle zehn Polizisten hinzurichten und ihre Familien in Konzentrationslager zu deportieren.
Wenig ausführliche Notizen
Heinrich Himmler (1900-45) war als Chef der SS hinter Adolf Hitler einer der wichtigsten Nazi-Führer, ein Architekt des Vernichtungskrieges in Osteuropa und des Völkermords an den europäischen Juden. Kaum ein Nazi-Funktionären hat seinen Alltag so minutiös dokumentiert - mit Ausnahme von Propagandaminister Joseph Goebbels, der mehr als 20 Jahre lang fast täglich Notizen machte.
In Himmlers Aufzeichnungen liegen Banalität des Alltags und "Banalität des Bösen" (© Hannah Arendt) oft nah beieinander. Das zeigten schon private Briefe, die vor zwei Jahren veröffentlicht wurden ("Fahre nach Auschwitz. Grüße und Küsse, dein Heini"). Telefonate mit seiner Frau und Tochter "Püppi" (die er mit der Zweitfamilie mit seiner Geliebten "Häschen" Potthast betrog) stehen da Exekutionsanordnungen gegenüber. Er entspannte beim Kartenspiel zwischen Treffen mit Adolf Hitler, in denen der Holocaust beschlossen wurde. Besonders zynisch wirkt der Eintrag über einen Besuch im KZ Buchenwald, wo er sich im SS Casino eine Jause gönnt. Dann wieder verfolgt er die Vergasung von 100 Gefangenen. chließlich werden neue Wachhunde bestellt.
Nikolaus Katzer vom DHI sagt nicht umsonst, die Dokumente seien "zum Erschaudern". Die Historiker interessiert aber weniger die Vermischung von Alltag und Grauen, sondern die Entwicklung der SS über die Kriegsjahre. Katzer erklärt: "Diese Dokumente sind wichtig, weil wir damit besser verstehen, wie die letzte Phase des Kriegs strukturiert war. Sie ermöglichen, uns zu verstehen, wie sich die Rolle Himmlers, die der SS und der ganzen deutschen Führungselite verändert hat." Die täglichen Eintragungen zu Treffen und Besprechungen zeigten, dass Himmlers Einfluss in den letzten Kriegsjahren noch gewachsen sei, sagt Matthias Uhl vom DHI. Die SS kontrollierte die Konzentrationslager, aber auch große Teile von Wirtschaft und Militär des Dritten Reichs.
Die Kalenderjahrgänge 1941/42 waren bereits 1991 im Sonderarchiv des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Moskau aufgetaucht. In Podolsk lagern als Beute der Roten Armee etwa 2,5 Millionen Blatt Akten der Wehrmacht, die in deutsch-russischer Kooperation seit 2015 sukzessive veröffentlicht werden.Immer noch vermisst werden etwa die persönlichen Papiere von Hermann Göring oder Gestapo-Chef Reinhard Heydrich, auch fehlen die Akten des Referats von Adolf Eichmann. Einiges wird in Berlin 1945 verbrannt sein, aber vielleicht wird noch so manches unter den Geheimbeständen in Russland auftauchen. Die Kalender Himmlers sind jedenfalls schon Schlüsseldokumente für ein weiterreichendes Verständnis des Nationalsozialismus.