Hochwohlgeborener Herr Rat! Vor Euch trete ich, Quintus Schwurbelein, hin, um in der Sache der hochwohlgeborenen Brüder Grimm, Germanisten und Märchensammler, sowie Ludwig Bechstein, Apotheker und Märchensammler, gegen Marthe Knusper deren Partei als Advocatus rechtskundig zu ergreifen. Ich will darstellen, auf welche niederträchtige Weise die unbescholtene Frau in ihrem Ruf geschädigt wurde und wie, ferner, die Brüder Grimm dazu beitragen, ein Bild der Frau zu malen, wie es auf Zeiten und Unzeiten dem weiblichen Geschlecht abträglich sein muss. Dafür erbitte ich Eure geschätzte Zeit und Euer geneigtes Ohr.

Was sind die Tatsachen im Fall der Marthe Knusper? Meine Mandantin zog sich in den Wald zurück aus freien Stücken, was kein Gesetz ihr verbietet. Daselbst fertigt sie zur Unterkunft ein Haus aus Lebkuchen an. Das mag seltsam scheinen, doch, hochwohlgeborener Herr Rat, in anderen, fernen Ländern stellt man Häuser aus Bananenblättern oder Flechtwerk hin, gerade so, wie wir Häuser aus Holz und Stein errichten, und wenn meine Mandantin ihr Haus aus Lebkuchen baut, so sei ihr das unbenommen, und kein Gesetz verwehrt es ihr.

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Daselbst also lebt Marthe Knusper, ohne je an etwas schuld geworden zu sein. Dennoch verleumdet alle Welt sie als Hexe, als die Knusperhexe. So wird es bleiben: Frauen, die auf ihre eigene Weise leben und sich nicht anpassen wollen an die Lebensweise, welche ihnen nach dem Modell der Romantik vorgegeben ist, werden, obzwar sie das volle Recht auf ihre Lebensweise besitzen, als unheimlich wahrgenommen und in der Umgangssprache weiterhin als Hexen bezeichnet. Dem gilt es, frühzeitig entgegenzuwirken.

Sachbeschädigung durch Hänsel

Die beiden unmündigen Kinder Hänsel und Gretel werden angeblich von ihren eigenen Eltern ausgesetzt. Doch auch hier gehen die Brüder Grimm auf die verwerflichste Weise vor. So nennen sie in ihrer Anklageschrift von 1812 die Eltern als Vater und Mutter. In der Anklageschrift von 1840 nennen sie hingegen Vater und Stiefmutter, womit sie zu meiner Mandantin Marthe Knusper auch gleich alle Frauen mit auf die Armsünderbank setzen, welche in zweiter Ehe eine Verbindung eingehen.

Wie glaubhaft ist solche Handlungsweise von Eltern, selbst wenn sie bitter arm sind? Wohl haben sie ihre Kinder in den Wald geschickt, um nach Essbarem zu suchen, etwa nach Pilzen. So folgen wir den beiden Kindern auf ihrem Waldspaziergang. Sie geraten nun zum Haus meiner Mandantin Marthe Knusper. An dieser Stelle beginnen, darauf, hochwohlgeborener Rat, ich Euer Augenmerk lenken will, die Brüder Grimm und der Apotheker Bachstein eine Verdrehung der Fakten, wie sie noch nie gesehen ward, obschon sie die Wahrheit aus ihrer Anklageschrift gegen meine Mandantin nicht völlig tilgen können.

So berichten sie: "Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig von dem Dach ab." Er klopft nicht erst an der Türe und bittet um Speise. Er zerstört meiner Mandantin buchstäblich das Dach über ihrem Kopf. Was würdet Ihr, hochwohlgeborener Herr Rat, mit einer Person machen, die Euch das Dach über dem Haupt abträgt, so, dass der Regen Euch schnurstracks in die Nasenlöcher läuft?

Meine Mandantin sperrte den unbotmäßigen Bengel völlig zu Recht und zum Schutz ihres Eigentums ein, was sonst hätte sie tun können, will sie nicht ihr ganzes Haus an den Magen dieses Buben verlieren? Dennoch versorgt sie ihn und seine Schwester mit Speise und Trank. Wie vergelten ihr die Kinder diese Wohltat? Sie versuchen, Marthe Knusper ins Feuer zu stoßen, begründet allein damit, sie sei eine menschenfressende Hexe. Hochwohlgeborener Herr Rat - ich bitte Euch...!

Das artige Mädchen wartet

Doch setzt diese verleumderische Anklageschrift gegen meine Mandantin nur fort, was die Brüder Grimm auch sonst gegen Frauen anführen.

So denke man nur an die Vorstellung, das artige Mädchen habe zu warten, bis der richtige Mann vorbeikommt. Nicht selbst aus eigenem Antrieb habe sie zu suchen, sondern gleichsam in einem Schlaf, aber den Blicken aller Bewerber ausgesetzt, zu harren, bis die Erweckung in der Ehe erfolgt - so wird es dargelegt in "Dornröschen".

Schneewittchen wiederum wetteifert mit ihrer Stiefmutter (die natürlich wieder die Böse ist) darum, wer die Schönste im ganzen Land ist - der Frau wird damit nicht nur Eitelkeit angedichtet, es mag sogar heißen, Frauen seien nur dann von Wert, wenn sie gut aussehen.

Im "Froschkönig" hat sich die Frau dem Willen ihres Vaters zu beugen, und siehe da, die Unterwerfung wird reichlich belohnt - wobei freilich auch diese Belohnung nur eine im Kosmos der märchenerzählerischen Brüder ist, denn die Frau gewinnt nicht etwa ihre Freiheit oder ihr Selbstbestimmungsrecht, sondern lediglich die Ehe mit einem gutaussehenden Mann aus der Nobilität. Sie gerät gleichsam von einem Käfig in einen anderen, und der einzige Vorteil des neuen mag sein, dass er ein goldener ist.

In "Aschenputtel" ist nicht nur die Stiefmutter böse, sie bringt auch zwei eigene Töchter mit, die gleichermaßen übel sind. Auch wird von Schuhen viel zu viel Aufhebens gemacht, und, hochwohlgeborener Herr Rat, wenn ich einen Blick in die Zukunft wagen darf, so mag diese Erzählung als Rufbestärkung für Großschustereien und ihre Läden dienen, nicht aber als vorbildliche Geschichte über den Charakter einer Frau.