
Da redet man dauernd über den Haggis und verschweigt ganz, was ein Haggis ist. Also, das ist ein Haggis: Herz, Leber, Lunge vom Schaf und Zwiebeln werden gargekocht, kleingehackt, dann mit Nierenfett vom Schaf, gehackten Zwiebeln und Hafermehl vermischt, mit Pfeffer, Salz, Muskatnuss und Muskatblüte gewürzt und in einen Schafsmagen gefüllt. Das Ganze wird vor dem Essen rund drei Stunden gekocht. Im Prinzip ist es eine Schafsbrühwurst.
Das Aufschneiden des Haggis ist der Höhepunkt des Burns Supper. Dieses beginnt der Schotte, sofern er es nach der zeremoniellen Vorschrift begeht, mit einem schottischen Tanz, einem Reel, auf dem Dudelsack. Hierauf trägt die würdigste anwesende Person, vor einer schottischen Flagge oder Fahne stehend, Burns’ Haggis-Ode vor - während der dritten Strophe, genau zu den Worten "An’ cut you up wi’ ready slight, / Trenching your gushing entrails bright / Like onie ditch" ("er schneidet dich auf, wenn aufgetischt, / Und in dein saftiges Inneres er bricht / Dem Pflüger gleich") wird der Haggis so aufgeschnitten, dass sich sein Inhalt über die Servierplatte verteilt.

Nun stelle man sich vor, Deutschland würde jeden 28. August, dem Geburtstag Goethes, ein Goethe-Essen mit Frankfurter Grüner Soße begehen, die angeblich das Lieblingsessen des Dichterfürsten war. Das Burns Supper mag dem Nicht-Schotten als amüsante Schrulle gelten - doch lassen wir einen Moment lang ein wenig Ernst aufkommen: Burns ist der Prototyp des Heimatdichters der Romantik, die kultische Verehrung, die ihm Schottland entgegenbringt, strotzt vor einem Nationalismus, den sich andere zur EU gehörende Nationen nicht erlauben. Umgekehrt konnten die Schotten nur damit zum Verbleib im Vereinten Königreich Großbritannien geködert werden, dass ihnen die Regierung in London vormachte, es werde niemals zum Brexit kommen. In den Schotten hat die allem nationalstaatlichen Denken gegenüber zumindest skeptische EU ihre treuesten Verbündeten auf großbritannischem Boden.
Von Schotten lernen
Vielleicht muss der Nationalismus auf die Basis der Skurrilität gestellt werden, um auf Wohlwollen zu stoßen. Wäre es verurteilenswerte Kleinstaaterei, würde österreichweit am 15. Jänner ein Grillparzer-Schmaus mit Schnitzel und Erdapfelsalat und Sachertorte zur Nachspeise veranstaltet, bei dem man die Österreich-Rede aus "König Ottokars Glück und Ende" verliest: "O gutes Land! O Vaterland! Inmitten / Dem Kind Italien und dem Manne Deutschland, / liegst du, der wangenrote Jüngling, da: Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn / Und mache gut, was andere verdarben." Oder würde man hierzulande ohnedies gleich das Lied vom lieben Augustin dazu spielen? -"Alles ist hin"...
Oder ganz anders: Vielleicht kann man von Nationen wie Schottland lernen, wie Nationalstolz und ganz und gar internationale Haltung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, und das eine so wenig Anstoß erregt, wie das andere auf gerümpfte Nasen trifft. Wenn beides in Burns Namen bei Reel und Haggis zueinanderfinden kann, dann müsste das doch exportfähig sein. Vielleicht sollte man heute doch auch als Nicht-Schotte einen Haggis versuchen und dazu ein Burns-Gedicht lesen (man findet sie reichlich im Internet). Und wenn es gar nicht geht mit dem Haggis und der Ode an ihn, wofür jeder Verständnis hat, der sich als Nicht-Schotte am Haggis versucht hat, dann tut’s vielleicht eine Burenwurst und das Burns-Gedicht "Why should we idly waste our prime" ("Was soll der eitle Müßiggang"), in dem es heißt: "The Golden Age we’ll then revive: / Each man will be a brother; / In harmony we all shall live, / And share the earth together", übersetzt von Helmut Heinrich: "Wir führn die goldene Zeit neu ein; / Wir werden alle Brüder. / In Eintracht lebend und Verein; / Die Erd gehört uns wieder."