Helmut Lethen setzt sich mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte auseinander. - © Mimi Pötz
Helmut Lethen setzt sich mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte auseinander. - © Mimi Pötz

Wien. Religionslehrer Lenzen hatte gelogen. Zumindest sahen es die Gymnasiasten im November 1957 in Mönchengladbach so. Der Lehrer hatte sie mit dem Versprechen, es gebe einen Aufklärungsfilm zu sehen, ins Union-Kino gelockt. Auch wenn ihnen klar gewesen ist, dass ein von einem Religionslehrer vorgeschlagener Film zum Thema Sexualaufklärung nicht unbedingt vor Erotik funkeln würde, waren die Erwartungen, doch etwas halbwegs Prickelndes präsentiert zu bekommen, vorhanden. Und dann das...

"Steintafeln des
Entsetzens"

Der vermeintliche Aufklärungsstreifen entpuppte sich als Alain Resnais’ Holocaust-Film "Nacht und Nebel", dessen gewaltige Bildsprache, unterlegt mit Hanns Eislers melancholischer Klarinettenmusik, über die Rampe und die Überreste, der in Auschwitz ermordeten Juden, verjagte die Hälfte der Jugendlichen aus dem Kinosaal.

Der anderen Hälfte blieben die Tatsachenbilder des Films in Erinnerung und hatten bei Helmut Lethen eine Konsequenz: "Seit damals dachte ich, alles über den Judenmord zu wissen, und kümmerte mich nicht mehr um eine weitergehende Aufklärung", erzählt der Germanist und Kulturwissenschafter im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Dieses visuelle Wissen hatte sich wie Wackelsteine in seiner Brust festgesetzt, ein lähmender Schock der Erkenntnis, massiv, aber eben ein Wissen, wie er betont, ohne Aufklärung. Er weigerte sich innerhalb seiner wissenschaftlichen Karriere, darüber zu publizieren. Erst die beiden Wehrmachtsausstellungen zwischen 1995 und 2001 und die begleitenden Diskussionen führten da-
zu, sich eingehender mit den "Steintafeln des Entsetzens" zu befassen.

Seine Auseinandersetzung mit der dunkelsten Seite der deutschen Geschichte führt Helmut Lethen, geboren am 14. Januar 1939 in Mönchengladbach, seit 2007 Leiter des Internationa-
len Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien, über
Dokumentation und Hinterfragung von Bildmaterial aus den Kriegsjahren. Einige Kapitel dieser Aufarbeitung sind nun Teil eines Sammelbandes, der vor kurzem unter dem Titel "Der Schatten des Fotografen" erschienen ist.

Das Cover zeigt eine Frau, die alleine durch eine Furt schreitet. Eine Aufnahme, die eine ungeheure Ruhe und Idylle ausstrahlt. Erst der Text, der auf der Rückseite des Fotos geschrieben steht, offenbart das absolute Grauen. Die anonyme Frau wurde von Wehrmachtssoldaten zum Aufspü-
ren von Minen eingesetzt. Ein sadistisches und tödliches Spiel. Oder das Bild eines Massengrabs, das ein knipsender Landser aufgenommen hat und dessen Schatten auf den Leichen zu erkennen ist.