
Wien. Oskar Negt zählt zu den führenden deutschen Sozialphilosophen. Negt hat bei Adorno und Horkheimer studiert, war Assistent von Habermas und wurde 1970 an die Universität Hannover berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 2002 lehrte. Seine wissenschaftliche Karriere ging Hand in Hand mit politischem Engagement: Negt war nicht nur eine der Ikonen der 68er-Bewegung, sondern mischte auch bei den Gewerkschaften mit, gründete eine Schule und war Berater des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD). In der mittlerweile Jahrzehnte währenden engen Zusammenarbeit mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge entstanden zahlreiche Publikationen, etwa das dreibändige Opus "Geschichte und Eigensinn".
In seiner jüngsten Streitschrift "Gesellschaftsentwurf Europa: Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen" beschäftigt sich Negt nun mit der Zukunft Europas. Der 80-Jährige reduziert darin die EU nicht auf finanzpolitische Aspekte - der Philosoph betrachtet Europas Gedeihen vielmehr abhängig von dessen gemeinsamer Sozialpolitik. Das europäische Gemeinwesen brauche, so Negt, ein neues Koordinatensystem entlang der Achsen Solidarität und Gerechtigkeit. Auf Einladung der Wiener Vorlesungen und des IFK hielt Negt kürzlich einen Vortrag in Wien. Zuvor traf die "Wiener Zeitung" den Denker.
"Wiener Zeitung":Der Ausgang der jüngsten Europawahlen und insbesondere das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien bestätigt im Grunde Ihre These, wonach sich Europa in einer "kulturellen Erosionskrise" befinde. Steht das Projekt Europa auf der Kippe?
Oskar Negt: Diese Formulierung mag allzu sehr nach Dramatisierung klingen. Gleichwohl sind die Gefahren, die zu einem Auseinanderbrechen Europas führen könnten, durchaus vorhanden. Europa ist ein großes Gesellschaftsexperiment - und jedes Experiment birgt die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Wobei für mich das Scheitern bereits darin bestünde, wenn es zu einem Einigungsprozess auf Ebene der rechtspopulistischen Prinzipien käme. Rechtspopulistische Parteien zeigen die Lücken gegenwärtiger Europapolitik auf, sie greifen auf den Rohstoff Angst zurück, der im Augenblick überall zu finden ist. Die Menschen haben nicht mehr das Gefühl, durch Europa etwas zu gewinnen, sie fühlen sich vielfach von Entscheidungen auf europäischer Ebene bedroht. Was soll ein spanischer oder griechischer Jugendlicher mit der Idee Europa verbinden, außer der Tatsache, dass in seinem Heimatland bei Bildung, Kultur und sozialen Maßnahmen gespart wird und Arbeitslosigkeit herrscht? Es wäre eine gefährliche Verharmlosung, wenn man das Erstarken der Rechtspopulisten als Randphänomen abtäte.