Der Essayist und frühere Politiker Andrei Pl eu bedauert, dass die rumänische Bevölkerung nur wenig Interesse an der Entkommunisierung hat. - © Bogdan Tutuneanu
Der Essayist und frühere Politiker Andrei Pl eu bedauert, dass die rumänische Bevölkerung nur wenig Interesse an der Entkommunisierung hat. - © Bogdan Tutuneanu

Bukarest. Kurz vor Weihnachten wimmelt es von Menschen in Shopping-Stimmung rund um den Revolutionsplatz. Als es langsam dunkel wird, geht die feierliche Beleuchtung an. Sie ist pompöser denn je zuvor, lässt die frisch renovierten Altbauten der Innenstadt glänzen und lockt die Bukarester in die schicken Läden und Cafés. Ein Reiseführer erklärt einer Touristengruppe aus Deutschland, dass der berüchtigte Diktator Nicolae Ceauşescu genau aus diesem Gebäude mit seinem Helikopter fliehen musste, nachdem seine letzte Rede am 21. Dezember 1989 von massiven Buhrufen unterbrochen worden war.

Von seinem Bronzepferd blickt Karl I. von Hohenzollern, der erste König Rumäniens, unpässlich auf die Menge herab. Sein damaliges Projekt, das Land einem radikalen Modernisierungs- und Europäisierungsprogramm zu unterziehen, scheint sich fast 150 Jahre nach seiner Thronsteigerung und genau 25 Jahre nach der letzten antitotalitären Revolution verwirklicht zu haben. Die Bürger stimmen dem laut Umfragen völlig zu. Nirgendwo anders in der EU bleibt der Enthusiasmus für Europa, Wirtschaftskrise hin oder her, höher als in diesem abgelegenen, rätselhaften Balkanland. Und damit nicht genug: Zuletzt wählten die Rumänen überraschend einen anderen Deutschen zum Staatspräsidenten, der ihnen noch mehr Modernisierung und Verwestlichung versprach. Passend dazu fand die Amtseinführung von Klaus Johannis am 21. Dezember statt - und fiel mit den Feierlichkeiten anlässlich des Revolutionstags zusammen.

Umgebaute Gesellschaft

Großartige Symbolik und Inszenierung mag man in Bukarest. Aber es geht eigentlich um viel mehr. In einem Altstadtcafé mit Pariser Charme sitzt Mircea Cartarescu, der bekannteste und meistübersetzte zeitgenössische Schriftsteller im Lande. Im Frühjahr fährt er nach Deutschland, wo er für seine Romantrilogie "Orbitor" den Leipziger Buchpreis erhalten wird. "Die Geschichte der sogenannten Europäisierung Rumäniens fängt um 1830 an", erzählt der Autor. "Viele Großgrundbesitzer, auch Bojaren genannt, schickten damals ihre Söhne für das Studium nach Paris. Doch als diese zurückkamen, waren sie bereits von progressiven, liberalen, oft sogar revolutionären Ideen geprägt. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten übernahmen sie die Macht in Bukarest und bauten von Grund auf völlig neue Institutionen und eine völlig neue Kultur auf. Das setzte einen Prozess in Bewegung, der bis heute andauert."

In der Tat stammen die meisten repräsentativen Bauten in der Bukarester Innenstadt aus die-
ser Epoche der Turbomoderni-
sierung und des politischen Liberalismus, in der eine sehr kleine politische und kulturelle Elite einen deutschstämmigen König auf den Thron hob, um sicherzustellen, dass sich das bäuerlich geprägte Land in Marsch Richtung Westen setzte.

"Diese erste Etappe der Europäisierung, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg brutal aufhörte, hat eine durchwachsene Bilanz hinterlassen", beurteilt Historiker Lucian Boia, dessen jüngste Bücher, "Die Germanophilen" und "Warum ist Rumänien anders", vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurden. "Zwar entwickelten sich Bukarest und die Städte in Siebenbürgen schnell, doch die meisten Indikatoren wie die Urbanisierungs- und Alphabetisierungsrate zeigen, dass der Großteil des Landes noch tief in feudalen Strukturen verankert war. Und die politische Elite, die die Rolle des fast inexistenten Bürgertums übernahm, konnte diesen Prozess nur mühsam vorantreiben."

Der Umgang mit den Altlasten

Die Zeit der staatssozialistischen Diktatur war in Rumänien nicht weniger paradox. "Ein sehr eigenartiger Kommunismus fast ohne überzeugte Kommunisten am Anfang und fast ohne Dissidenten am Ende", mokiert sich der Politologe Stelian Tănase, der in den gefährlichen Stunden vom Dezember 1989 auf die Straße ging, um gegen das Regime zu protestieren. "Bis auf viel weniger Ausnahmen als in der DDR oder in
Ungarn waren wir alle Mitläufer. Es gab einfach keinen nennenswerten Widerstand, und das erklärt teilweise auch die Schwierigkeiten, die wir später, in der Transformationsphase, erfahren mussten."

Wie man mit den Altlasten des Staatssozialismus umgehen soll und auf welcher Basis eine neue Gesellschaft aufgebaut werden kann, erwies sich in der Tat als schwierig und oft umstritten. "1990 fehlte uns ein breiter, fundierter Konsens, was die Richtung der zukünftigen Entwicklung angeht", stellt der Autor und Verleger Gabriel Liiceanu fest. Bekannte Intellektuelle wie er forderten immer wieder eine grundsätzliche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und erhofften sich, dass dieser moralische Prozess in eine Art "Trennung der Wahrheit von der Lüge" münden wird, die für gesellschaftliche und politische Klarheit sorgen sollte. Eine Annäherung Rumäniens an Europa sei nur dann möglich, so Liiceanu, wenn die "Entkommunisierung" genauso entschlossen vorangetrieben werde, wie in Deutschland die Entnazifizierung.