"Anima"-Albumcover.
"Anima"-Albumcover.

Auf dem Cover verengt sich die Kohlezeichnung einer Wolkenkratzerlandschaft beklemmend zum Spitz eines Trichters. Darüber stürzt eine Figur in den Abgrund. Und natürlich sind wir auch mit dem alarmistisch in orangefarbenen Versalien aufgedruckten Albumtitel "Anima" konfrontiert, der sich auf die analytische Psychologie des Schweizer Psychiaters C. G. Jung und somit auf Traumwelten im Allgemeinen und das menschliche Unterbewusstsein im Speziellen bezieht. Auch dort tun sich mitunter erhebliche Abgründe auf, und ein Fall ins Bodenlose ist jederzeit möglich (man kennt das, wenn es einen im Schlaf hin- und herreißt und man später neben, vor oder unter dem Bett wieder munter wird).

Zu einer pochenden Bassdrum, synthetischem Waberbass, dräuend frickelnder Elektronik und dem ungefähren musikalischen Spannungsgehalt eines Kelomats aus dem Teleshop von Horst Fuchs heißt es mit enigmatischer Wisperstimme gleich zu Beginn: "I can’t breathe! There’s no water!" Und auch vom Verlorensein in Metropolis, das längst Dystopistan heißt, von Entfremdung, dem Festhängen in Sackgassen oder am AMS sowie von individueller Vereinsamung im kollektiven Netz wird in der kommenden Spieldreiviertelstunde in diversen Grauschattierungen noch die Rede sein.

Verwaschen und flüchtig: Thom Yorke veröffentlicht wieder Musik. - © Alex Lake
Verwaschen und flüchtig: Thom Yorke veröffentlicht wieder Musik. - © Alex Lake

Willkommen in der Welt von Thom Yorke – willkommen in der Welt des Leidens und des Leidens an der Welt! Der mittlerweile 50-jährige britische Musiker hat bekanntlich gleich im Jahr 1992 mit der Debütsingle seiner Band Radiohead ("Creep") den Begriff der Alienation mit einer Generationshymne abgefeiert und es im Anschluss nicht weniger lichtscheu angelegt. Bei vielleicht einer gewissen Entfremdung von der Stromgitarre zugunsten des Reichs der Bits und Bytes unter Zuhilfenahme eines Laptops blieb diese Konstante in der Karriere – die Schwere – auch immer bestehen. Es ging dabei neben inneren Dämonen außerdem um äußere Problemstellungen wie Kriegstreiberei, Turbokapitalismus oder den Konsum toter Tiere sowie im Rahmen des Solodebüts "The Eraser" von 2006 um den Klimawandel. Zuletzt lud Thom Yorke erst im Vorjahr mit seinem Soundtrack für das Remake des Horrorklassikers "Suspiria" unter Regie von Luca Guadagnino zum musikalischen Exorzismus. Grusel, zitter, brrr, u-aaaah!

Für die Inspiration zu "Anima" werden nun die Erfahrungen mit einer weiteren Schreibblockade und erneut ausgebrochene Angstzustände des Musikers ins Feld geführt. Bekämpft wurden diese im Dateiaustausch mit Yorkes Haus- und Hofproduzenten Nigel Godrich und den Lehren aus einem Konzertbesuch beim US-Eklektiker Flying Lotus. Hinzuweisen gilt es außerdem auf einen gleichfalls "Anima" betitelten 15-minütigen und bedeutungsschwer als "One-Reeler" angekündigten Kurzfilm des Regisseurs Paul Thomas Anderson ("There Will Be Blood", "Inherent Vice") auf Netflix, der zur Bewerbung des Albums auch in IMAX-Kinos zu sehen ist.

Ruckelnde Beats

Thom Yorke selbst bringt den Begriff der Dystopie für die neun Stücke von "Anima" ins Spiel und präsentiert den Protagonisten von "The Axe" zu desperaten Klängen auch deshalb kurz vor einem Amoklauf gegen elektronisches Kleingerät: "Goddamn machinery / Why don’t you speak to me?" Auch das kennt man.

Sehr im Gegensatz dazu lassen die Arpeggios und auf "Trans Europa Express" gestimmten Klangflächen von "Last I Heard (. . . He Was Circling The Drain)" ausgerechnet die Düsseldorfer Elektropioniere und Technofetischisten Kraftwerk – sie sind die Roboter – als Einfluss erkennen. Verwaschene, ausfransende und flüchtige Klangschlieren zu nervös ruckelnden Beats bestimmen den Sound. Im Hintergrund spuken die Geister, weiter vorne gibt Thom Yorke den Solisten aus dem Beschwerdechor: "I thought we had a deal?!"

Bei "Not The News" deutet eine Art Echolotmelodie auf Gefahr. Mit dem federnden Bassgroove von "Impossible Knots" wird es gegen Ende hin organischer und zumindest im Sound etwas lichter, ehe bei "Runwayaway" eine spirituell heilssuchende Yogakursgitarre mit Krautrockbezug auf eine Klangcollage mit Techno-Einsprengsel trifft. Der Synthesizer erinnert an "What Is Love?" von Haddaway, vielleicht aber ist das nur unser Unterbewusstsein – oder wir haben schon wieder geträumt. Tolles Album!