Die Kulturtechnik, sich auf einem Konzertgelände blöd aufzuführen, also etwa Besucher in unmittelbarer Stehnähe mit einem freigelegten Bierbauch samt "Gerti"-Tattoo oder mit kapitalen Zwiebel-Wurst-Bier-Rülpsern zu provozieren, ist zwar definitiv noch nicht überwunden - man muss nur zum "Nova Rock"-Festival fahren oder schon demnächst in Wien die U2 in Richtung Metallica nehmen. Da geht noch was! Zumindest in der superkuscheligen Wohlfühlwelt, die das Wiener Popfest Jahr für Jahr auf dem Wiener Karlsplatz aufbaut, kann man aber schon einmal vergessen, dass man sich in einer Blase befindet.

Wenn man von der Bühne herab beispielsweise daran erinnert wird, dass Wasser bei diesen Temperaturen wichtig für unseren Körper ist, ist das ja tatsächlich sehr nett. Irgendwie hat man sich die Sache mit dem Rock ’n’ Roll und mit Pop- als Gegenkultur zumindest bisher aber doch etwas anders vorgestellt. Unvernunft, Bier vor vier, pofeln wie ein Einser und beim Nachhausekommen mehr so wie in "Ham kummst" von Seiler und Speer. Mira Lu Kovacs mit Kuratorenkollegin Yasmo im Rahmen der Popfest-Eröffnung 2019 am Donnerstag hingegen in ihrer Ansprache: "Sei ma lieb zueinander und pass ma aufeinander auf, okay?"

Als Ausreißer des Abends auf der Haupt-, also der Seebühne mit Blickrichtung Karlskirche ist nur der Eröffnungsact eher nicht ganz so nett. Die 29-jährige alevitische Münchnerin Ebru Düzgün alias Ebow arbeitet allerdings auf doppeltem Boden und gibt die migrantige Wutbürgerin am Beispiel der britisch-tamilischen Kampfrapperin M.I.A. Ebow schnalzt uns zu zum Kopfnicken ladenden Hip-Hop-Beats Selbstverteidigungs- und Gegenangriffszeilen wie "Kanak for Life / Mein Bezirk, meine Blocks / Alles ist meins!", "Schmeck mein Blut, jeden Tropfen meiner Wut, ertrink in meiner Flut" oder "Wir sind wert, was der Pass uns an Wert gibt / Gib mir das Visa und ein Aufenthaltskärtchen" um die Ohren. "Kusängs" kommen in den Songtexten auch vor. Ebow beherrscht also die Kulturtechnik, FPÖ-Wähler, die heute aber natürlich nicht anwesend sind, zu provozieren. Durchsagen der Rapperin klingen übrigens nach einem Reality-Format auf RTL II ("Ich bin so krass hier!") oder einem alten Song von Tic Tac Toe ("Ich laber nicht so viel"). Junge weiße Dicke-Hose-Rapper mit vorgetäuschtem Gangsta-Hintergrund faschieren kann Ebow dafür sehr erfrischend. Wir finden das gut.

Eva Klampfer alias Lylit berichtet im Anschluss nicht nur von einer gescheiterten internationalen Topkarriere mit Plattendeal in New York und dem anschließenden Jammertal mit Vertragszwistigkeiten. Sie erklärt mit voluminöser Stimme zu großem, klassischem Soulkino und dessen zeitgemäßer Laptop-Variante auch, dass sie sich über die Jahre zu einer hervorragenden Performerin entwickelt hat. Wie Songs wie "Overload" und vielleicht auch die große Geste des Auftritts erklären, ist manchmal zwar alles zu viel. Zum Glück hat Lylit aber Trost, Rat und Erbauung im Angebot. Und mit "Blocks" ist auch ein Manifest weiblicher Selbstermächtigung im Kampf gegen Sexismus dabei.

Elektropop-Inkarnation

Danach würde man den Umstand, dass die Frau auch die Songs des Headliners geschrieben hat, ohne Vorwissen nicht bemerken. Tom Neuwirth alias Conchita Wurst steht jetzt als nur mehr Wurst mit seiner neuesten Inkarnation, die auf Elektropop setzt, auf der Bühne. Seine Durchsagen erklären dann auch schlüssig, was mit dem aktuellen Songtitel "Trash All The Glam" gemeint ist. Wurst sieht stylingtechnisch zwar aus wie vor einer weiteren Partynacht auf dem Life Ball, spricht aber wie ein Innviertler Bauer beim Weltspartag in der Raika: "I gfrei mi a so, dass ma do sei derfn!"

Die angekündigte strikte Trennung zwischen der Glamourfrau Conchita und ihrer männlichen Muckibudenvariante mit Sixpack und Wurst, eben Wurst, findet übrigens zumindest live fürs Erste nicht statt. Die ins Kunststudentischere drängenden neuen Songs unterscheiden sich vom "Wir schaffen das"-Pop des Debütalbums "Conchita" im Konzert nicht um Welten. Eine musikalisch einwandfreie Version von "Purple Rain" wiederum lässt keinen Zweifel, dass Prince-Songs immer am besten waren, wenn sie von Prince selbst aufgeführt wurden.

Bald danach machte man es also wie der Phoenix - und reiste. Ab jetzt muss das Popfest spannender werden.