Schon in der U-Bahn gibt es einen Dialog der Differenzen: "Heißt es bei euch der oder das Teller?", fragt eine junge Deutsche einen nicht wesentlich älteren Österreicher. "Ich sag: der", sagt er: "Dafür heißts bei uns das Radio, nicht der." "Klingt komisch", sagt sie, und: "Ihr habt ja auch so lustige französische Ausdrücke: wie Trottoir für Bürgersteig!" Er: "Oder Lavoir für Waschschüssel - übrigens das Lavoir."
Und schon hieß es aussteigen an der Station "Baumwall" (vermutlich: der), um in die Elbphilharmonie zu gelangen, wo am vergangenen Wochenende das Festival "Ganz Wien" stattfand, mit einem bunten Strauß, nein, einer Melange (die Melange!) aus alten und neuen Wiener Klängen, also der für diese Stadt typischen Verschmelzung von Schrammelmusik und Wienerlied mit Folk, Blues, Pop und Kabarett, was in den letzten Jahrzehnten eine quicklebendige, vielfältige lokale Szene hervorbrachte, die sich auch internationaler Beachtung erfreuen darf. Wie sich auch an diesen drei Tagen in Hamburg zeigte.
Vor einigen Jahren, noch in prä-elbphilharmonischen Zeiten (die Fertigstellung das monumental aufragenden Bauwerks zog sich bekanntlich lange hin), hatte man es an der Elbe mit einem "Alpenmusik"-Zyklus probiert - und war damit gescheitert. Diese Art von (neuer) Volksmusik stieß im Norden auf wenig Interesse und Gegenliebe - ganz im Gegensatz zum nunmehrigen Wien-Festival, das seine Attraktivität aber wohl auch dem spektakulären Konzertbau (der Anfang 2017 eröffnet wurde) zu verdanken hatte, in welchen man bei dieser Gelegenheit einmal hineinschauen (und -hören) durfte.
Wiener Fanclub

Die Gelegenheit zum "Elphi"-Beschnuppern ließen sich auch viele Wiener nicht entgehen, die ihre heimischen Interpreten als Art Fanclub nach Hamburg begleiteten - und dort für eine lokalpatriotische Atmosphäre sorgten. Schon beim Eröffnungskonzert des Nino aus Wien gingen bei dessen Frage "San Wiener a do?" gut ein Drittel der Hände in die Höhe. Max Gaier von 5/8erl in Ehrn meinte überhaupt, dass er schon lange nicht mehr so viele Wiener auf einem Fleck gesehen habe. Und Ernst Molden, als Zentralfigur in Hamburg in mehrfachen Kombinationen auftretend, konnte sich nach dem Festival nicht erinnern, mit einem einzigen Hamburger geredet zu haben, er traf "nur Wiener": bei den Konzerten, im Publikum, weiters den Intendanten und schließlich noch eine Ärztin, die er kurzfristig benötigte - sie stammt aus Hietzing.
Christoph Lieben-Seutter, gebürtiger Wiener und viele Jahre Leiter des Konzerthauses, ist seit 2007 Generalintendant der Elbphilharmonie (und wurde inzwischen bis 2024 verlängert). Für ihn war dieses Festival naturgemäß ein Heimspiel - und eine Herzensangelegenheit. Gemeinsam mit Barbara Lebitsch (auch sie Österreicherin) hat er das Programm entworfen - und alle, die sie wollten, waren gekommen, außer Voodoo Jürgens, der andere Verpflichtungen hatte.
Mit Nino ging es also los - wie die meisten anderen Künstler trat er im kleinen Saal auf, keiner architektonisch auffälligen, aber einer mit angenehmer, warmer Atmosphäre und feiner Akustik ausgestatteten Räumlichkeit für 500 Besucher. Fast schien es, als wäre die stadt-(und land-)bekannte Schluffigkeit des Nino Mandl hier ein wenig hanseatisch gestraffter ausgefallen: Er wirkte wacher als sonst, seine zur Halblustigkeit neigenden, oft am Scheitelpunkt der Fremdscham balancierenden Moderationen gerieten nicht so leicht ins Rutschen - und er musizierte mit seinem erfahrenen Begleittrio auf erfrischend schmissige Art.
Dabei brachte er den Hamburgern (und Wienern) bewährte heimische Rückzugssorte wie das grindige Schwedenespresso oder das Hawelka nahe, in dem er - seit man dort nicht mehr rauchen darf - Nicoretten-Kaugummi kauend in der Ecke sitzt. Vom Hawelka ists dann nicht weit zu Georg Danzer, von dem Nino als buchstäbliche Schlussballade eine hinreißende Version des - durch Wolfgang Ambros bekannt gewordenen - schwermorbiden Songs "Heite drah i mi ham" in den Saal wuchtete.

Gestorben wurde - dem Wiener Klischee entsprechend - an den drei Tagen viel und oft. "Leben wie Qualtinger, Sterben wie Heller", heißt es bei 5/8erl in Ehrn; ums Sterben an der Donau gehts auch bei Molden/Resetarits/Soyka/Wirth, bei denen selbst ein dezidiertes Lied gegen den Selbstmord ("...eigentlich schad, wenn i mi aufhäng...") noch den verführerisch süßen Sog der Vergänglichkeit verströmt.
Frosch im Brunnen

Das Quartett trat als einzige Einzelformation im großen, wellenförmig steil nach oben taumelnden Saal auf, der 2000 Besucher fasst - und alle Künstler zuerst einmal einschüchtert. Das beginnt schon beim Soundcheck, wie Ernst Molden erzählt: "Ich fühlte mich hier wie ein Frosch am Boden eines tiefen Brunnens."
Trotz einiger Beschwerlichkeiten - Willi Resetarits war stimmlich angeschlagen und klang wie Tom Waits, während das Akkor-deon von Walther Soyka in der eigenwilligen Akustik bisweilen schroff absoff - machten die vier ihre Sache mit graziler Würde und reiften gemeinsam mit ihren warmblütigen Liedern in der Weinberg-Architektur der Elbphilharmonie zu edler Spätlese heran.
Ein leiser, aber nicht minder stimmungsvoller Höhepunkt - im kleinen Saal - war der gemeinsame Auftritt der Strottern mit dem auf mittelalterliche Musik spezialisierten Ensemble Mikado. Die Durchdringung von Klängen & Tänzen aus dem 16. Jahrhundert, an teils imposant großen Blockflöten und einer Viola da Gamba ausgeführt, und den hinterfotzigen Gstanzln des Wiener Duos Lendl/Müller führte zu berückend schwebenden Harmonien mit schwarzhumoriger Grundierung.
Dabei hätte es sich Klemens Lendl, Sänger & Geiger der Strottern, fast mit dem Hamburger Publikum verscherzt, als er sie als "Bremer" ansprach. Da ging ein deutlich vernehmbares Murren durch den Saal. Es war bei diesem hintersinnigen, ausgebufften und charmantesten Conférencier aller Wiener Liedermacher aber ein wohl kalkulierter Versprecher, da Lendl gerade vom Dissen bestimmter Städte sprach (bei den Strottern etwa im Falle von Linz der Fall, dessen einstigen Werbespruch "In Linz beginnts" sie in einem Liedrefrain mit "Da hört sich alles auf" kontern). Die Hamburger waren dank schalmeienhafter Entschuldigung rasch wieder versöhnt, daher plädierte Lendl für ein Unentschieden in der Disziplin, auf andere Städte herabzuschauen: "Das können wir in Wien nämlich auch ganz gut."
Dabei schauen die Hamburger, so die Erfahrung von Christoph Lieben-Seutter, gar nicht auf andere herab. Sie sind distanziert, zurückhaltend, aber auch klar, zuverlässig und mit einem speziellen trockenen Humor versehen. Der Generalintendant fühlt sich bei den Hanseaten ausnehmend wohl: "Die Wiener Art, Dinge etwas leichter und lockerer zu nehmen, kommt hier gut an", erzählt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Daher ist man als derartiger "Südländer" im Norden generell willkommen - was umgekehrt bekanntlich nicht immer der Fall ist...
Grande Finale

In der Elbphilharmonie, wo im Foyer des kleinen Saals ein "heurigenähnlicher Vergnügungspark" (Klemens Lendl) mit grünen Buschen, Gspritzn, Schmalzbroten und Original Heurigenmusik (der weniger ästhetischen Art) eingerichtet worden war, strömte den Wienern jedenfalls größtmögliche Sympathie entgegen. Die anwesenden Hamburger, einige warens ja doch, verstanden zwar viele Lied- und Ansagetexte nicht, ließen es an Akklamation und Applaus aber trotzdem nicht fehlen.
Als einige bei 5/8erl in Ehrn vorzeitig den (kleinen) Saal verlassen wollten, wurden sie von Sänger Bobby Slivovsky auf unnachahmliche Wiener Art zur Umkehr zu überreden versucht: "Mir waratns dann eh glei . . ." Hätten die Hamburger es verstanden, wären sie wahrscheinlich geblieben.
Der wirkliche Abschied, das Grande Finale des Festivals (bei dem zuvor u.a. noch Alicia Edelweiss, Sigrid Horn und die Neuen Wiener Concert Schrammeln auftraten) erfolgte wiederum im großen Saal, mit den sogenannten "Vienna-All-Stars", einer - aus den Eröffnungsprogrammen der beiden vergangenen Wiener Festwochen zusammengestellten - musikalischen Revue in Big-Band-Format. Unter Mitwirkung von u.a. Birgit Denk, Katharina Strasser, Ursula Strauss, Ernst Molden & Nino wurde ein alt-österreichisches Repertoire von Frühzeit-Rappern wie Pirron/Knapp ("Tröpferlbad"), Klassikern wie Georg Kreisler oder Hugo Wiener und späten Allzeit-Größen wie Ambros, Heller und Falco in den elbphilharmonischen Weinberg geschmettert. Stärkster (Gänsehaut-)Moment war freilich die fulminante vokale Darbietung einer "Zuagrasten", nämlich der aus Serbien stammenden, nunmehr in Wien heimischen Sängerin (und Bratschistin) Jelena Popran - einer Frau mit umwerfender Stimme (bis in die höchsten Publikumsränge hinauf).

Ganz war das Wien-Gastspiel in Hamburg damit aber noch nicht vorbei, denn nur wenige Tage nach dem Festival gastieren diese Woche die Wiener Philharmoniker (mit Andris Nelsons) mit drei Konzerten in der Elbphilharmonie, und am Samstag, 7. März, spielen Wanda in der Sporthalle. Der oder die Wanda? Geht wohl beides, da wie dort.