Für die Erkenntnis, dass Zeit relativ ist, hat es in der Wissenschaft bekanntlich auch eine Weile gedauert. Dabei hätte man nur eine Zeitmaschine besteigen und damit in die 1990er Jahre reisen müssen, wo es draußen bei Tageseinbruch zwar auch schon wieder erheblich später geworden war und die Leute da draußen in Richtung Büro aufbrechen mussten. Allerdings sorgten im Inneren von damals noch vor allem an der Universität des Lebens inskribierten Studenten-WGs neben dicht aufsteigenden Rauchschwaden nicht zuletzt die Klänge von Kruder & Dorfmeister dafür, dass alle Uhren währenddessen stillstehen konnten.
Zeit ist relativ und egal, die Nacht dann, wenn man den Tag dazu ausruft: Von seinem Ottakringer Studio aus sorgte das DJ-Duo für den schlau zusammenschlawinerten sogenannten "Downtempo-Boom", der im Wesentlichen aus dem guten alten österreichischen Beharren auf Gemächlich- und Gemütlichkeit sowie nur keiner Aufregung bestand und Schnitzelland zurück auf die globale Poplandkarte brachte.
"Lost Album"
Die ästhetisierte wie ästhetisch schlank gehaltene Mischung aus verschleppten Beats mit von Vinylknistern begleiteten Samples von lateinamerikanischer Querflöten-Leichtigkeit und Sperrstunden-Kontrabass aus historischen Jazzkellern, ergänzt um das Tagedieben eigene Gefühl der Tiefenentspanntheit (die Beine hoch!), sie führte aber zu einem: Kruder & Dorfmeister sollten international bald erfolgreich und ausgelastet genug sein, um, nun ja, mutige Karriereentscheidungen wie die Absage auf Remix-Anfragen von David Bowie, U2 oder Sade zu fällen und selbst eher keine Zeit mehr zu haben. Dafür sorgten dann aber doch abgelieferte Auftragsarbeiten für Madonna und Depeche Mode für den nötigen Finanzpolster und späteren "Legendenstatus".
22 Jahre nach ihrer letzten tatsächlichen Veröffentlichung in Form der "K & D Sessions" ist es also nur konsequent, dass Kruder & Dorfmeister auch jetzt nicht mit neuem Material zurückkehren, sondern die Zeit mit dem im Jahr 1995 entstandenen und heute als "Lost Album" verkauften "neuen" Album "1995" (G-Stone/Edel) anzuhalten versuchen.
Während alles Tiefenentspannte im echten Leben zugunsten der Hektomatikwelt längst wegrationalisiert wurde, bewegt man sich hier also spürbar noch einmal abseits von Raum und Zeit. Alles klingt wie immer, hudeln gilt nicht - und überhaupt: Chillts amoi! Das ist in seiner smoothen Schöngeistigkeit natürlich gut anzuhören. Allerdings beginnt man sich auch recht bald zu fragen, ob das alles immer schon so verdammt glatt-bieder nach akustischem Spa-Bereich geklungen hat. Drogen sind übrigens Schnee von gestern, zu dieser Musik macht man heute Pilates.
Das nun vorliegende Debütalbum der "literarisch-liturgischen" Band Gebenedeit lässt sich nicht nur im direkten Vergleich als radikaler Gegenentwurf hören. Auf "Missgeburt. Macht eine Messe!" (Problembär/Rough Trade) schließt das Trio um die auch als Mitglied der feministischen Burschenschaft Hysteria bekannte Wahlwiener Schriftstellerin Lydia Haider das Baugerüst des Gottesdienstes samt Kirchenlied-Überresten mit einer Ästhetik kurz, die man so oder so ähnlich eher aus der alternativen skandinavischen Kirchenanzündermusik kennt. Zwischen Heimorgelgrundierung, wuchtigem Schlagzeug und grobschlächtigen Fuzzgitarren hört man ketzerische Kellerpredigten mit Haider als orgien-mysterisch gestimmter Apostolin des Untergangs und des Verderbens.

Finster-grimmig, mit Schaum vor dem Mund und in beinahe fremder Zunge folgt die Autorin und Vokalistin dabei ihrer Tradition der bereits in Texten wie "Wahrlich fuck you du Sau, bist du komplett zugeschissen in deinem Leib drin oder: Zehrung Reiser Rosi" oder als Herausgeberin der Anthologie "Und wie wir hassen" erprobten Hate Speech. Im Song "Sanctus (Falsche Sau)" etwa heißt es mit infernalischem Furor: "Hör dir an, was eine Erleuchtete zu sagen hat, und schweige / Also mach auf deine Ohren, du Ungläubiger / Ich weiß wohl, dass du diese Scharlatane auserkoren hast, dich zu leiten / Dir und deinesgleichen und deiner ganzen verbrunzten Familie, die dich erziehen hätte sollen / Deiner ganzen verbrunzten Familie zur Schande und zum Verruf . . ."
Neben einem gewaltigen Blutrausch ("Lied", "Gebet") ist "Ausmarsch (Missgeburt)" Helmut Qualtingers und André Hellers "Krüppellied" in absolut Nachtschwarz und völlig humorlos - und "Gloria (Die Viren sollen krepieren)" ein pandemisches Tänzeln am Abgrund. Leichte Kost geht definitiv anders.
"I was once a happy drinker / And I drank through every night / A bitter potion made of desire / A drop of anger, a shade of shame . . ." Mit nachtschwarzen Stimmungen mag zwar auch Philipp Hanich alias Bruch vertraut sein. Der gleichfalls in Wien ansässige bildende Künstler und Musiker aus München aktiviert im Zweifelsfall aber lieber die Selbstheilungskräfte - und wirft den Rettungsanker der Sehnsucht aus.
Auf seinem neuen Album "The Fool" (Trost/Cut Surface) begegnet er uns entsprechend als "Sinner", "Trembler", "Singer" sowie im Selbstporträt als Vogel-Maler, aber definitiv nicht als der titelgebende Narr, der bei einem musikalischen Veitstanz natürlich ein anderer ist: "Youre trying to fool the fool, you fool / Youre trying to fool the fool."

Wie schon auf dem Vorgänger "The Lottery" von 2016 gewinnt Bruch seinem ins elektronische Zeitalter überführten Schaltkanzel-Rock-n-Roll mit Lo-Fi- und Alternative-Hintergrund immer wieder große Popmomente ab. Neben heftig ballernden Synthie-Bässen der Marke Nine Inch Nails oder DAF bei rhythmuszentrierten Stücken wie "Lets Sweat The Crap Out" oder dem erwähnten "The Fool", einem Hauch Frank Tovey alias Fad Gadget bei "Individual" (mit seinem schönen Satz "It used to be individual / to be individual") und hübschem Alleinunterhaltermaterial ("Bruch") kulminieren diese heute im von Bruch wieder im gewohnten Knödelgesang vorgetragenen "Gelotologie". Musikalischer Trost, den man brauchen kann: "Laugh today and cry tomorrow / But for now forget your sorrows."