Blende auf, erstes Bild. In der großartigen Dokumentation der US-amerikanischen Regisseure Ken Burns und Lynn Novick über den Vietnam-Krieg (2017) erzählt ein Veteran über seine Stationierung 1968 und 1969 im Norden Südvietnams.
Während dieses totalen und sinnlosen Irrsinns hörte der Marine in den Feuerpausen die von den Radiosendern ausgestrahlte Pop- und Rockmusik. Und diese Musik war es, die ihm sagte, dass da eine Bewegung war, eine Mehrheit der Menschheit im Westen, die einhellig rief: Schluss mit diesem Krieg, Schluss mit dem Kämpfen und Morden. Es war freilich nicht nur die Popkultur, sondern auch die Studentenbewegung und die Medienberichte, die den Vietnamkrieg für die USA zu jenem Makel machten, der er war.
Diese neue Popkultur, die aus der Rock-, Blues, und Beatkultur hervorging, schlug sich nie eindeutig auf die Seite der Kriegsgegner und Weltverbesserer, sondern kommentierte die Gemengelage des Westens in dieser Umbruchszeit entweder mit lakonischen Statements ("Revolution" - Beatles), ironischen Beobachtungen ("Street Fighting Man" - Rolling Stones) oder aggressiven Traditionals wie Jimi Hendrix Gitarrenriff-Interpretation der US-Hymne in Woodstock. Die numerischen 1960er beendeten die Stones resignativ mit ihrer Hymne "You cant always get what you want". Wars das mit der Weltmacht Pop?
Weltmacht Pop
Eine Zeitlang wohl. Doch dann: Blende auf, zweites Bild. Zu Weihnachten 1984, als die Bilder der Hungersnot in Somalia die neue Mittelschicht verstörten, da raffte sich Bob Geldof auf, die britische Popwelt zu einem gemeinsamen Lied zu bewegen: "Do they know its Christmas?" In den USA taten es ihnen prominente Popinterpreten gleich ("We are the world"). Die Zuseher der beiden "Live Aid"-Konzerte im Jahr 1985 spendeten mehr als eine Milliarde Schilling (heutiger Geldwert etwa 189 Millionen Euro); die größte weltweit gespendete Summe Geld, die half, die Hungernden zu versorgen und auch nachhaltige Projekte zu befruchten, die heute noch existieren. Wars das mit der Weltmacht Pop? Ja, das wars.
Wenn man von der kurzzeitig politisierten Werbekampagne des Modeschneiders Benetton absieht, dessen Fotograf Oliviero Toscani die brave United-Colours-Kampagne mit Schockbildern aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg konterkarierte - auch diese Plakate waren einflussreich. Danach kam nur noch United Colors of gar nix.
Blende auf, drittes Bild. Wir schreiben das Jahr 1993. Ein Team des britischen Senders SKY-News klettert mit bosnischen Kämpfern in der Nähe von Sarajevo einen Hügel hoch, um dort mehrere Scharfschützen einer serbischen Miliz zu töten - Gefangene wurden damals keine mehr gemacht. Wir sehen einen Schusswechsel, dann fängt sich der Kameramann wieder und zeigt ein weiteres verstörendes Bild dieses Krieges, eine erschossene serbische Scharfschützin, vielleicht Mitte zwanzig, blond, groß, schön - tot. Der bosnische Soldat nimmt ihr die blauen Kopfhörer ihres Walkmans ab. Was hörte die schöne Sniperin? "Even better than the real thing" von U2.
Draußen ist wieder Krieg. Ähnlich wenig weit weg wie damals das Abschlachten im zerfallenden Jugoslawien zwischen 1992 und 1999. Doch birgt der Krieg in der Ukraine das Potenzial zu einem Weltenbrand, das Damoklesschwert thermonuklearer Vernichtung hat das Schwingen wieder aufgenommen. Reißt das Seil?
Naive Deppen wie ich und zehntausende andere meiner Generation, die zumindest einmal die eindrucksvolle Machtdemonstration der immer schon diversifizierten, aber anfangs gleichschwingend Popkultur erlebt haben - die für viele, auch für mich, das Weltbild prägend wurde -; viele von uns naiven Deppen träumen jetzt von einen Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse, der von einer breiten Popkultur (die Rockkultur ist immer mitgemeint) befeuert wird: ein Stadienkonzert der besten Bands gegen den Faschismus der russischen Regierung, ein weltweites Auftreten der größten Stars von Metal bis Techno, der den Wahnsinn anheimfallenden Mächtigen signalisiert: "Nicht in unserem Namen!"
Dumme Träume
In Österreich zumindest hat die vom Sender FM4 vertretene Elite des Pop immerhin 45.000 Menschen im Happel-Stadion als Besucher zu einem Benefizkonzert aufgerufen. Das ist nicht nichts, aber nur ein Statement aus einem peripheren Land der Popkultur.
Gibt es Dümmeres zu träumen? Kaum! Denn dass die zutiefst im Kapitalismus verankerte Popkultur einheitlich auch eine Jugendkultur repräsentieren konnte, das war vielleicht zwischen 1965 und 1970 der Fall. Schon danach entstanden mehr und mehr Popmusik-Subkulturen, deren Anhänger sich zu verachten begannen, wie Motorradgangs, die sich wegen Honda oder Kawasaki auf Parkplätzen prügelten. In der verblichenen Popbibel-Zeitschrift "Spex" schrieb zu Beginn des Jahrtausends ein Autor die These nieder, dass die politischen und kommerziellen Mächte des Westens die Popkultur schon zu Beginn der 1970er zu diversifizieren begannen, weil sie ihre vereinheitlichende Kraft fürchteten. Was mir damals irgendwie schlüssig schien, wirkt heute wie verzweifeltes Geschreibsel eines Vertreters der Boomer-Generation.
Wenn man in der Popmusik heute Interpreten sucht, die eine Hunderttausendschaft Fans und Anhänger hinter den gut erdgasgeheizten Öfen hervorlocken könnte, so sind das Fans und Anhänger der vielen totalemanzipierten weiblichen Interpretinnen - Billie Eilish und andere. Und auch die Clubkultur könnte mobilisieren. Aber für beide Spezies ist das schon gedanklich unmöglich.
So ist es nur logisch, dass die einzige Vertreterin einer weltumspannenden Jugendbewegung eine autistische Schwedin ist, die mit ihrem Schulstreik für die Klimawende für Furore sorgte. Und eine Bewegung ins Leben rief, die sich nun aufraffen muss, um auch wirklich zu wirken. Diese Greta Thunberg ist genau das Gegenteil eines Popstars; sie vertritt keine auf Pop gestützte Lebensidee mehr.
Vielleicht rettet genau das uns allen den Arsch.