Laut Kae Tempest selbst handelt es sich bei "The Line Is A Curve" um ein Album über "Schamgefühle, Ängste, Vereinsamung - und über das Sich-Fallenlassen", das in erster Linie Themen wie "Resilienz, Akzeptanz, Unterwerfung" verhandelt. Das lässt bereits auf die Möglichkeit schließen, dass die zwölf neuen Songs mitunter auch einen etwas zärtlicheren Zugang zu bewährten Inhalten finden könnten.

Heute nichtbinär und unter neuem Namen auftretend, wurde Kae Tempest ursprünglich als Kate Tempest bekannt. Verwurzelt in der Open-Mic-Szene im Südosten ihrer Heimatstadt London, entwickelte sich die 1985 geborene Performerin nicht nur als musikalischer Spoken-Word-Act zu einem wortmächtigen Aushängeschild ihres Jahrgangs. Auch mittlerweile vier Theaterstücke, diverse Gedichtbände sowie der Debütroman "The Bricks That Built The Houses" (deutsch: "Worauf du dich verlassen kannst", Rowohlt 2016) sorgten dafür, dass Tempest als interdisziplinär arbeitende Schreibmaschine mit live auf der Bühne erhobener Stimme nicht überhört werden konnte. Bereits im Jahr 2013 wurde ihr für ihre Arbeit, konkret für das Langgedicht "Brand New Ancients", der britische Ted Hughes Award verliehen. Und erst zuletzt folgte im Rahmen des Theaterfestivals der Biennale von Venedig mit dem Silbernen Löwen für das Lebenswerk (!) eine weitere Auszeichnung.

Gegenwartsverdichtungen

Womit wir auch schon bei einem Schlüsselstück des nun also vorliegenden neuen Albums wären, dem vierten im Werkkatalog, aber dem ersten unter dem Namen Kae Tempest: Im Song "No Prizes" wird gemeinsam mit der britischen Soulsängerin Lianne La Havas als Gaststimme recht einnehmend und bewegend aus dem Leben all jener berichtet, die es, schrecklich neoliberal ausgedrückt, "nicht geschafft haben" - und ihr Kulturprekariat bei zunehmenden körperlichen Alterserscheinungen zwischen Ischias und Bandscheibe mit drei Brotjobs gleichzeitig querfinanzieren. Oder wie es im Text dazu heißt: "I used to be joyful, they tell me / A real free-spirit / I thought music would protect me / I used to sing in all these bars and I used to busk / But never caught a break, my lucky day never showed up."

Immer schon beschäftigt sich Tempest recht sozialrealistisch - und auf dem Album "Let Them Eat Chaos" von 2016 etwa szenisch angelegt anhand von sieben schlaflos durch London geisternden Charakteren - mit den Problemen der (auch nicht mehr ganz so) jungen Leute von heute, in programmatischen Gegenwartsverdichtungen wie "Europe Is Lost" nicht zuletzt vor dem Hintergrund des politischen Auseinanderdriftens Europas in Brexit-Zeiten, geschildert aus der Alltagsperspektive zwischen Humana-Shop, Sozialmarkt, keiner Perspektive und nächtlicher Selbstbetäubung.

Vorgetragen im Graubereich zwischen Rap und Autorenlesung zu zum Kopfnicken ladenden, elektronisch unterfütterten Beats, wurden die Grenzen des Formats "Pop"-Album schließlich im Jahr 2019 mit "The Book Of Traps And Lessons" unter Produktion von Rick Rubin weitestmöglich ausgedehnt. Darauf standen die Stimme und das gesprochene Wort über weite Strecken solo oder nur zu spartanischen atmosphärischen Klängen im Zentrum.

Mit "The Line Is A Curve", aufgenommen von Tempests altvertrautem Produzenten Dan Carey, eingespielt mit langjährigen Weggefährten wie Kwake Bass am Schlagzeug und Luke Eastop an der Gitarre sowie mit weiteren Gästen wie Grian Chatten von der irischen Post-Punk-Band Fontaines D.C. oder dem US-Rapper Kevin Abstract, streicht Tempest mit diversen stilistischen Haken zwischen Synthie-Pop-Melodien ("Priority Boredom"), begräbnistauglichen Bläserarrangements (das Albumhighlight "Salt Coast") oder sogar einer Art Dancebeat ("More Pressure") jetzt wieder die Musik hervor.

Und ergänzt den beibehaltenen Blick auf vertraute Problemfelder wie das Leben im spätkapitalistischen Hamsterrad und die Angst davor, nicht mehr schritthalten zu können, mit einer verstärkten Hinwendung auf das Innenleben. Wobei es auf dem Album, das sich nicht zuletzt auf Tempests im Vorjahr bei Suhrkamp erschienenen Langessay "Verbundensein" bezieht, mit eingestreuten Parolen wie "Stop suffering, dance more" auch darum geht, sich am eigenen Schopf aus der Misere zu ziehen - sowie unter dem Schlagwort "Selfcare" auch einmal Milde angesichts der eigenen Unzulänglichkeiten walten zu lassen.

Einen Grund hat das alles natürlich auch: Unüberhörbar ist es bei Stücken wie "Don’t You Ever" und dem zum Abschluss gereichten "Grace" vor allem die Liebe, die den heute etwas sanfteren Blick von Kae Tempest bestimmt - und dem desperaten Betongrau des Alltags mehr Licht und Hoffnung entgegenhält.