Auf dem Hocker vor mir liegt das T-Shirt mit dem Schriftzug "Ostbahn lebt", das ich am Vortag noch getragen habe, und ich sitze fassungslos auf dem Bett daneben. ",Ostbahn-Kurti Willi Resetarits verstorben", hat "krone.at" wenige Minuten zuvor, am Sonntag kurz vor 16 Uhr, vermeldet.
Wie kann das sein? Samstagabend hat der Willi noch quietschfidel den 28. Flüchtlingsball im Wiener Rathaus eröffnet. Kurz vor Mitternacht intonierte er mit Vusa Mkhaya, einem Musiker aus Simbabwe, Tschotscholossa, ein Lied seiner ehemaligen Band Schmetterlinge. Kurz danach vereinbarte ich mit Willis Ehefrau Roswitha Hofer-Resetarits für die kommenden Wochen einen Interviewtermin.
Sonntagvormittag ist der 73-jährige Resetarits bei einem Haushaltsunfall ums Leben gekommen, wie das Integrationshaus Wien vermeldete.
"Woher soll ich das wissen?"
Rund 40 Mal habe ich Willi Resetarits als Ostbahn-Kurti auf der Bühne stehen sehen und komme damit wohl nicht einmal unter die Top-1.000 der Kurtologinnen und Kurtologen, die bei der Zahl 40 mitleidsvoll lächeln. Krampus-Rummel im Schutzhaus auf der Schmelz, strömender Regen auf der Kaiserwiese oder Stromausfall im Orpheum (Willi: "Da hot a Trottel a Bier übers Mischpult gschütt"). Legendäre Konzerte, wie ja eh alle Konzerte legendär waren. Vor allem jene, an die man sich schon am nächsten Tag nicht mehr so ganz genau erinnern konnte. "Wie war das Konzert?" "Woher soll ich das wissen?"
Die Live-Gigs mit der Chefpartie, der Combo oder den Musikern seines Vertrauens waren für die Fans immer wie ein Familienausflug oder ein Klassentreffen. Man kannte sich vom letzten, vom vorletzten und vom vorvorletzten Konzert, fiel sich in die Arme oder nickte einander verständnisvoll zu, prostete mit Bier im Plastikbecher und stimmte die "Kurti! Kurti! Kurti!"-Sprechchöre an, um den coolen Mann mit Sonnenbrille und Lederhaut auf die Bühne zu singen.
Das Phänomen Ostbahn-Kurti war und ist untrennbar mit Günter Brödl verknüpft. Der im Oktober 2000 verstorbene Musikjournalist hat die raue RocknRoll-Figur aus Simmering Anfang der 1980er Jahre erschaffen. Mit seinen genial wie treffsicher ins Wienerische übersetzten Rock- und Blues-Klassikern schuf er jenes Gerüst, jenes Skelett, dem Willi Resetarits als leibliche Verkörperung ab Mitte der 1980er Leben und Seele einhauchte.
Für Außenstehende war bald nicht mehr unterscheidbar: Ist das der Willi oder ist das der Kurti. Resetarits resümierte im Jahr 2004 kurz nach der Ostbahn-Abschiedstournee: "Ich vertrug diese zwei Seelen in meiner Brust gut und konnte sie auch nicht immer auseinanderhalten."
Resetarits verlieh der Kunstfigur Authentizität. "I bin a schlechter Schauspieler", sagte er einmal. Willi spielte, verkörperte den Kurti nicht. Er schlüpfte in ihn hinein, stülpte ihn sich über und war der Kurti. Der Prolet aus der Vorstadt, der alle Höhen und Tiefen und auch die Untiefen des Lebens durchgemacht hat. Einer, der weiß, wie es in der Halbwelt zugeht, aber nie den Blick für die, die ganz unten sind, verliert. "Waaßt wos, I brauch heit, Net nu aan dea schaut. Wos I ganz dringend brauch heit, War a neiche Haut", zitiert der Kurti im Song "A neiche Haut" die fiktive Hure Rikki.
Auf der Bühne (und im Publikum) wurde geraucht und gesoffen, also der Österreicher liebste Drogen konsumiert. "Es wäre Schönrederei, wenn man glaubte, die Affinität zum Alkohol, die der Ostbahn-Kurti im erfundenen wie später auch im wirklichen Leben zelebrierte, hätte dem Geschäft geschadet", schrieb der Journalist Christian Seiler im Jahr 2010.
Einer von uns
Der Willi/Kurti gab der ab dem Platten- und Live-Debüt im Jahr 1985 stetig wachsenden Fangemeinde das Gefühl: "Er ist einer von uns." Die von ihm interpretierten Texte von "Trainer" Brödl taten das ihrige. Man konnte sentimental sein ("Tankstö"), der Verliebtheit frönen ("Frog ned was muagn is") oder bei den Konzerten hemmungslos abtanzen ("Wirklich wahr"). Mitgegrölt wurde sowieso immer. Der musikalische Lebensmensch auf der Bühne vermittelte stets das Gefühl, dazuzugehören und Teil von etwas Besonderem zu sein. Er spendete Trost und Rat und Spaß.
Willi Resetarits, der Wehrdienstverweigerer und Arena-Besetzer, war auch ein zutiefst politischer Mensch. Er verkörperte das, was Schlechtmenschen einen Gutmenschen zu nennen pflegen, und hielt der Politik einen Spiegel vor. Er zeigte, was möglich ist, wenn man nur will. Als Gründer des Integrationshauses und Mitgestalter vieler anderer Menschenrechtsinitiativen setzte er sich jahrzehntelang für soziale Gerechtigkeit und für Minderheiten ein.
Leisere Töne
Nach dem Tod des Masterminds Brödl im Jahr 2000 ließen Resetarits und seine Mitmusiker den Ostbahn-Kurti langsam ausschleifen. 2004, nach der Abschiedstournee, meinte Resetarits: "I ziag noch an Zwanzigjahresziegel durch, mit einer Musik, die ich noch gar nicht weiß, aber die wird wunderschön sein." Es wurden keine zwanzig, sondern viel zu kurze achtzehn Jahre, in denen der Willi leisere Töne anstimmte. Und er schuf mit Kollegen in unterschiedlicher Zusammensetzung wunderschöne Musik. Mit dem Stubnblues etwa oder mit Ernst Molden, Walther Soyka und Hannes Wirth, mit denen er am kommenden Freitag den Amadeus-Award in der Kategorie Jazz/World/Blues entgegennehmen hätte sollen.
"Weil warum . . . ?", pflegte der Kurti bei seinen Konzerten stets zu fragen, um dann eine launige Erklärung folgen zu lassen. Heute gibt es keine Erklärung, nur noch die Frage, auf die keiner mehr die Antwort gibt. Willi, machs gut.