Auf ausgewählten Fotos sieht Win Butler mit seiner mastercardgoldblonden Mähne aktuell ein wenig aus wie ein alter "James Bond"-Bösewicht. Doch was für ein Kontrast, wenn der Mann auf dem neuen Album seiner Band Arcade Fire mit aus einschlägigen Kinderliedern geborgtem "Duup-du-dup"-Gesang loslegt, um eine Nachricht für den Nachwuchs zu hinterlassen - und dabei auf das Vollprogramm in Sachen Herzerwärmung setzt. Es sei völlig okay und aus diversen Gründen, die die Welt täglich für uns bereithält, auch nur zu verständlich, einmal traurig zu sein. Allerdings dürfe man nie damit aufhören, an das Gute zu glauben.
Dazu setzt es tröstliche wie sehr gerne auch etwas kitschig-pathetische Klänge in sommerlich luftiger Lagerfeuer-Atmosphäre. Die Marshmallows und Würstel werden schon in die Glut gehalten, und eine akustische Gitarre aus dem Jungscharlager ist folgerichtig auch mit dabei.
Bis zu diesem Moment des nur sieben Songs in 40 Minuten versammelnden Albums, in dem sich - zumindest scheinbar - auch dessen Titel erschließt, dauert es aber ein wenig. Arcade Fire haben ihren sechsten Longplayer "We" getauft. Sie adressieren damit zwar auch ein kollektives Wir, das dem vereinzelten und unüberhörbar pandemisch geprägten Ich der ersten Albumhälfte gegenübersteht, beziehen sich dabei in erster Linie aber auf den im fernen Jahr 1920 erschienenen Roman "Wir" des russischen Schriftstellers Jewgeni Samjatin, in dem die Gesellschaft des "Vereinigten Staates" eingeschlossen hinter Mauern festsitzt und vorgeblich von den Herrschern "beschützt" werden soll.

Als Maßnahmenkritiker sind Arcade Fire in Corona-Zeiten nicht aufgefallen. Außerdem wurde die Arbeit an "We" bereits im Jahr vor Ausbruch der gegenwärtigen Pandemie begonnen. Gleich zum programmatischen Auftakt mit "Age Of Anxiety I" jedenfalls herrschen nach einem dräuenden Crescendo sowie einem unbehaglichen Pumpen und Pochen Atemnot und Beklemmung, während Win Butler am Klavier Zeilen wie "Fight the fever with TV / In the age when nobody sleeps / And the pills do nothing for me" zum Besten gibt.
Entfremdung, Vereinzelung und Betäubung: Interessanterweise ist auf diesem Album erstmals in der Bandgeschichte ein Produzent mit an Bord, dem diese Themen bereits von anderswo vertraut sein dürften. Wobei Radiohead-Regelschieber Nigel Godrich, der mit dem kommende Woche erscheinenden Debüt "A Light For Attracting Attention" des Radiohead-Ablegers The Smile (live im Wiener Gasometer am 17.5.!) derzeit auch noch als Produzent eines weiteren zentralen Albums dieses Jahres vorstellig wird, der kanadischen Band keinen Stempel aufdrückt. Im Gegenteil. Abgesehen von einer kleineren Anspielung im Eröffnungsstück hilft der Brite Arcade Fire dabei, wieder ganz wie Arcade Fire zu klingen.
Mit Mammutballade
Die fünfköpfige Band um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne hat sich auf ihren beiden bisher letzten Alben stilistisch mitunter weit von ihren Wurzeln entfernt. Nach diversen Einflüssen aus Disco, Dancerock und traditioneller haitianischer Raramusik auf dem mit einem Gastauftritt von David Bowie veredelten "Reflektor" von 2013 und den umstrittenen Abba-Anspielungen des Albums "Everything Now" von 2017 (gemeinsam mit Daft-Punk-Mann Thomas Bangalter und Steve Mackey von Pulp) besinnt sie sich jetzt wieder ihrer Ursprünge.
Die Frage, ob der Himmel auch in Krisenzeiten gestürmt werden darf, führt dabei vor allem aus zwei Gründen ins Leere. Einerseits hat die Band bereits auf ihrem von Todesfällen im persönlichen Umfeld mitbeeinflussten Debütalbum "Funeral" von 2004 die Überwindung des Unglücks mittels Musik als wesentliches Stilmittel ausgerufen, Stichwort Katharsis. Andererseits hebt "We" im Endeffekt nur selten so richtig ab.
Während etwa gleich "Age Of Anxiety II (Rabbit Hole)" an zweiter Stelle mit Elektropopelementen der Marke Chromatics und einem Beat auf den Spuren von Kraftwerk auf den Dancefloor lockt, sein Grundmotiv im Weiteren aber zu oft wiederholt, anstatt es gewinnbringend weiterzuentwickeln, steigt Win Butler mit einer in vier Abschnitte gegliederten, fast zehnminütigen Mammutballade gleich wieder auf die Bremse.
Bei "End Of The Empire I-IV" handelt es sich um den Abgesang auf ein Amerika, das es nicht mehr gibt, eingebettet in ein Gefühl von größeren Untergängen und individuellen Verlusten. Dazu werden, versunken am Klavier sowie mit dichten Streicherbeigaben und blaustichigen Jazzbläsern, atmosphärische Bilder einer Sperrstunde im Ballroom beschworen. Viel Zeit dürfte dem Text zufolge ja nicht mehr bleiben.
Bereits die Vorabsingle "The Lightning I, II" war im Versuch, den Verhältnissen im stilprägenden Sound mit Euphorie beizukommen, in der Mitte stecken geblieben. Mit seiner an Neil Youngs "Only Love Can Break Your Heart" angelehnten Melodie sowie mit Bezügen sowohl zu aktuellen Kollegen wie The War On Drugs als auch zu deren großem Vorbild aus dem immergrünen Heartland Rock, dem Boss höchstpersönlich, wird die Zuversicht hier aber immerhin im Zusammenhalt wiedergefunden: "We can make it if you dont quit on me / I wont quit on you / Dont quit on me." Was für die Band selbst nach dem Ausstieg ihres Multiinstrumentalisten und Familienmitglieds Will Butler hingegen nur bedingt gelten dürfte.
Bevor das Album mit dem Titelsong als Appendix etwas unentschlossen ausklingt, schimmert das elektronische "Unconditional II (Race And Religion)" mit Régine Chassagne an den Leadvocals und einem ziemlich zurückhaltend angelegten Gastauftritt von Peter Gabriel noch hübsch im städtischen Neonlicht. Womit "We" am Ende vollkommen in Ordnung geht, für eine beste Band ihrer Zeit, die das Publikum mit Alben wie "Neon Bible" (2007) und "The Suburbs" (2010) konsequent überwältigt hat, zwangsläufig aber auch hinter den Erwartungen bleibt.