So richtig Karriere hat das Wort "händeringend" erst in letzter Zeit gemacht. Spätestens seit dem Fachkräftemangel suchen diverse Branchen nicht mehr ausschließlich "intensiv" oder "verzweifelt" nach Personal. Nein, sie tun dies fast wie früher gestandene Arbeiterinnen und Arbeiter, sprich mit ganzer Kraft und Anstrengung und dabei weniger maschinell als manuell.
Dabei hätte man nur einmal Sam Smith hören müssen. Die Lieder des britischen Sängers flehen schon seit dem Durchbruch mit seinem Debütalbum "In The Lonely Hour" aus dem Jahr 2014 so leise und vor allem traurig, dass man das alles tatsächlich nur auf eine Weise beschreiben kann. Aber hallo. Wie händeringend ist das denn?
Monster im Kopf
Nicht von ungefähr liegen die Wurzeln dieser gerne soulig gedeuteten Songs im Kirchenlied und werden mit Gospelelementen zusätzlich geistlich aufmunitioniert. Schließlich werden auch in der Liturgie nicht nur Hände gereicht. Bis es so weit ist, wird mit ihnen natürlich auch ... ja, richtig. Erst wenn man sein Schuldbekenntnis einmal abgelegt und auch das "Herr, erbarme dich" (Kyrie eleison) hinter sich gebracht hat, bewegt man sich bekanntlich langsam in Richtung Ehrerbietung vor.
Es dürfte also seine Gründe haben, warum Sam Smith seinem mittlerweile vierten Album den Titel "Gloria" (Universal Music) verliehen hat, der trotz Smiths ursprünglich katholischer Erziehung weder als Abkürzung der Formel "Ehre sei Gott in der Höhe" (Gloria in excelsis Deo) noch als weiblicher Vorname, sondern am besten synonym für "Ruhm", "Ehrerbietung" sowie mit einer Erweiterung vielleicht auch im Sinne von "Glanz und Gloria" gelesen werden sollte.
Sam Smith ringt dabei in Stücken wie dem tongue-in-cheek-sexuellen "Unholy" gemeinsam mit der aus Köln stammenden, heute aber in Los Angeles ansässigen Sängerin Kim Petras sowie natürlich im a cappella gegebenen Titelsong nicht ganz zufällig zu gregorianischen Chorälen um Entfesslung und Selbstakzeptanz. Nach Outings als homosexuell im Jahr 2014 sowie als genderqueer drei Jahre später lebt Smith seit 2019 endgültig nichtbinär. "Demons on my shoulder / Monsters in my head": Es geht in den neuen Songs also immer auch um eine Schuld, eine Schuld, eine große Schuld - und, wie auch gleich eingangs mit dem melismatischen "Love Me More", darum, wie und warum man sich trotzdem und gerade deshalb noch viel nachdrücklicher annehmen sollte.
Ein Duett mit Ed Sheeran
Bisher, so Sam Smith in einer etwas seltsamen Definition, sei der Herzschmerz sein eigentlicher Safe Space gewesen, diesmal wollte er mit seinen Liedern auch andere Emotionen wie Ärger, Sexyness und Fröhlichkeit vermitteln. Das ist zumindest teilweise gelungen. Immerhin hört man in den knapp 30 Spielminuten nicht nur den einen oder anderen abgebremsten Hip-Hop-Beat zum Cruisen durch Downtown ("Perfect"), mit dem gleichfalls sehr sexuellen "Gimme" so etwas wie Sam Smiths Aufbruch in tropisch gefärbte Gefilde - sowie mit "Im Not Here To Make Friends", einem weiteren sexy Song, bei dem Sam Smith keine Freunde, sondern einen Lover sucht, astreinen Discofunkpop, der allerdings nicht so recht zünden will. Und wohin es beinahe zwangsläufig geht, nachdem auch das näher am Post-Dubstep eines Jamie Woon stehende "Lose You" auf den Dancefloor entführt hat, darf dann wiederum der wippende und kippende Bedroom-R&B von "Six Shots" erklären. Wurde schon erwähnt, dass manche Songs des Albums recht sexuell sind?
"I used to cry myself to sleep at night": Ganz vorbei ist es mit der gewohnten Heulerei von seinerzeit aber auch nicht. Ohne Angst vor harten Brüchen klingt Sam Smith, dem man allein für das geraunte Intro zu "No God" die goldene George-Michael-Gedenkmedaille verleihen müsste, bei mit viel Schmalz angerichteten Rührstücken wie "How To Cry" und nicht zuletzt der Ergriffenheitsballade "Who We Love" im Duett mit seinem Buddy Ed Sheeran zwischendurch natürlich nach wie vor so weich, dass man ihn blind erkennt.
Für die Zielgruppe ist das nur würdig und recht. Mit "Unholy" hat Sam Smith jetzt auch seine erste US-Nummereins. Alles, was diese Person angreift, wird ganz einfach zu Gold. Vielleicht hilft ja ein Blick auf den Kontostand dabei, um auch in Zukunft etwas weniger traurig zu bleiben.
Live am 18. Mai in der Wiener Stadthalle.