Man kennt das nicht zuletzt von den grantigen Gesichtern jeden Tag zur Morgenstund’ - durchaus ohne Gold im Mund - aus der U-Bahn: Wenn man gerade nicht neben jemandem zu sitzen kommt, der es in die Welt hinausschreit - die Rede ist nicht von Säuglingen! -, sind da sehr viele Menschen, die irgendetwas in sich hineinfressen dürften. Vielleicht schreiben diese Personen klammheimlich aber auch nur an ihrem ganz persönlichen Protestlied, für das der Weg in die Arbeit ja bereits genug Inspiration bieten sollte.

Erhöhter Blutdruck

Ein Blick in die sozialen Medien belegt, dass aktuell etwa die Wiener Öffi-Intervalle ihren Teil dazu beitragen, dass sich der kollektive gesellschaftliche Blutdruck noch einmal erhöht - und weniger der U-Bahn als vielmehr den Fahrgästen die Kabel durchbrennen.

Heast!! Weil, sagen wir so: Nachdem man auch beim Personalmangelbäcker gerade noch eine gefühlte Stunde für seinen inflationären Frühstückskaffee, den man sich in Schilling gar nicht mehr vorstellen will, Schlangestehen durfte, ist das Leben auch als menschliche Ölsardine kein Zuckerschlecken. Ha, das kommt jetzt gleich in meinen Protestsong, ihr Wappler! Und da ist man noch nicht einmal in der Arbeit angekommen, die in acht Stunden nicht einen Song, sondern im Regelfall gleich ein ganzes Lebenswerk an Liedern im Zeichen des Dagegenseins zeitigt.

In der traurigen Wirklichkeit schaut es aber leider ganz anders aus. Tatsächlich schreiben viel zu wenige Menschen Protestsongs. Sie verzichten damit nicht nur auf ein persönliches Druckablassventil. Sie verweigern so auch ihren Dienst an der Gemeinschaft. Wo, wenn nicht im Protest und in der Kunst, kann heute überhaupt noch so etwas wie ein "Wir" existieren? Musik als verbindende Kraft, Brandbeschleuniger und Herzenswärmer wie auch als Verstärker hätte diesbezüglich ein relativ leichtes Spiel. Nur hochrappeln muss man sich dafür schon.

Toxische Männlichkeit

Zum Glück ist Wien dem Klischee zufolge aber nicht nur die Welthauptstadt des Grants. Nein, hier findet mit dem Protestsongcontest seit dem Jahr 2004 auch eine eigene Veranstaltungsreihe statt, die jährlich zur Erinnerung an die Februarkämpfe 1934 am 12. Februar ganz dem musikalischen Contra geschuldet ist.

Wer dabei heuer als Sieger oder Siegerin hervorgehen wird, ist freilich noch ungewiss. Ein zentraler Verlierer steht diesmal dafür schon im Vorfeld fest. Als aus dem Alltag gegriffener, sprich lebensnaher Feind Nummer eins bekommt aktuell das iPhone links und rechts seine Watschen ab. Symbolhaft für Kapitalismus und Markengeilheit bei gleichzeitigem Desinteresse an einer Welt, die man zugunsten verdummender Inhalte auf Hass befördernden Tech-Magnaten-Plattformen am liebsten nicht einmal ignoriert, hat das Produkt aus dem Apple-Konzern beim PSC 2023 gleich mehrere Gastauftritte - ohne aber im Zentrum zu stehen. Stattdessen geht es in den Stücken von Werner Brix und Flow & Felvin um allgemeinen Radikalkonsumismus oder die vergebliche Suche nach globaler Gerechtigkeit. Interessant in diesem Zusammenhang auch Lenny420 feat. Benjo, die ausgerechnet im handelsüblichen Gangstarap-Stil gegen Profitgier und für den Heimatplaneten agitieren. Das würde es bei 50 Cent definitiv nicht geben!

Wer die Hauptschuld an der Misere trägt, ist übrigens im Song "Ausempört" von Luksan Wunder schnell ausgemacht. Wir haben es mit einem Protestlied zu tun, bei dem unter besonderer Berücksichtigung der Personenbeschreibung "alter weißer Cis-Mann" vor allem männlichen Boomern das Geimpfte aufgeht. Toxische Männlichkeit und Femizide wiederum stehen in den Stücken von Lasse Mangold und Vlun auf dem Programm, während Lena Theresia mit ihrem Lied "Wunderbar" etwas über den weiblichen Intimbereich in Richtung Sigmund Freud richtigstellt.

Der Ukraine-Krieg kommt ebenso vor wie verwahrloste Asylquartiere. La Gouche schließlich schließen den Kreis zurück zum täglichen Arbeitsweg: "Hackel-hackel! Hölle, Hölle!!" Über das Überleben im Hamsterrad dann aber beim nächsten Mal wieder mehr.