In der ersten Stunde tost Applaus durchs Klassenzimmer. Diejenigen, die eben gesungen und getanzt haben, werden jetzt bejubelt. Wegen der mit Schaumstoff abgedichteten Wände herrscht in diesem Raum ein satter Sound. So klingen die Lieder von Stevie Wonder, welche die Schülerinnen und Schüler über die vergangenen Wochen einstudiert haben und jetzt nacheinander vortragen, fast schon wie eine Studioversion.
Zu den Teenagern, die da an einem ganz normalen Schulvormittag singen und im Takt klatschen, gehört die Kölnerin Aurelia von Blumröder. Fragt man die 16-Jährige, was sie einmal werden will, lautet die Antwort ohne Zögern: "Ich glaub schon Sängerin oder Singer-Songwriterin." Dafür sei sie schließlich vor einem guten Jahr hierhergezogen: nach Seoul, die Hauptstadt von Südkorea und der seit Jahren weltweit boomenden Popmusik.
Aurelia von Blumröder ist wie viele Gleichaltrige selbst K-Pop-Fan und lässt sich an dieser Schule im Südosten des Stadtzentrums quasi zum Star ausbilden. Dies sei nur hier möglich, sagt sie nach der ersten Stunde auf dem Weg zu ihrem Spind: "In Deutschland gibt es weniger Möglichkeiten, was mit Popmusik zu machen. Ich wollte mehr über Musik insgesamt lernen, also auch über Theorie." Als Aurelia am Computer ihres Elternhauses sah, dass diese bekannte gelbe Uniform, in der K-Popstars häufig posieren, von dieser Schule kommt, fragte sie ihre Eltern, ob sie sich bewerben dürfe.
Die "School of Performing Arts", kurz: SOPA, ist auch deshalb besonders, weil sie einmal mehr zeigt, wie riesig die K-Popindustrie mittlerweile geworden ist. Seit 2009 ist SOPA nach eigenen Angaben das erste reguläre Gymnasium in Südkorea, das auch für eine Karriere auf der Bühne ausbildet. "Unser Lehrplan beinhaltet alles, was der Staat vorgibt, damit unsere Absolvierenden mit dem Abschluss an die Universität gehen können", erklärt Schuldirektor Lim Ho-seong. "Darüber hinaus bilden wir je nach Spezialisierung auch künstlerisch aus, damit es für eine Musikkarriere reichen kann."
Das Gesamtpaket zählt
K-Pop sei anspruchsvoller als andere Musikwelten, deutet der Schuldirektor an. "Bei K-Pop geht es ja ums Gesamtpaket. Die Darstellenden können sehr gut singen, rappen, tanzen, sind also quasi komplett. Die Musik speist sich außerdem aus ganz verschiedenen Genres." Insofern versteht man sich an dieser Schule als Äquivalent zu einem Sportgymnasium, das Spitzentalenten in Leichtathletik oder Fußball eine zweigleisige Ausbildung ermöglichen will. Denn wie im Sport sei auch im K-Pop die Konkurrenz heutzutage so groß, dass Talent allein für den Erfolg nicht mehr ausreiche.
So hat Aurelia von Blumröder - Tochter eines deutschen Vaters und einer koreanischen Mutter - jede Woche auch Unterricht in Gehörbildung, Stimmschulung und Musikgeschichte. Auf diese Weise, sagt man sich hier, wurden etwa die Abgänger Jungjook von BTS und Sehun von Exo zu dem, was sie heute sind: K-Popstars. Wobei Aurelia zugibt, dass diejenigen, die schon gut im Geschäft sind, auch mal eine Extrabehandlung erhalten.
Die Schülerin muss grinsen, wenn sie erzählt, wie einige Jungstars morgens mit dem Taxi vorm Eingangstor der Schule abgesetzt und kurz darauf auch schon wieder abgeholt werden. "Es gibt im Moment auch sehr viele Berühmte, die ich morgens sehe. Die kommen, dann kriegen die einen Haken auf der Anwesenheitsliste, und bevor der Unterricht beginnt, gehen die halt wieder."
Die Sache mit der Anwesenheit sei ein stückweit flexibel. "Es gibt halt eine bestimmte Anzahl an Schultagen im Jahr, die man absolvieren muss."
Denn wer die Aufnahmeprüfung zu dieser Schule bestanden und die rund 8.000 Euro Jahresgebühr bezahlt hat, der hat schon einen ersten wichtigen Schritt zum Ruhm getan. Aurelia erzählt, dass es oft genügt, auf sozialen Medien ein paar Fotos von sich in der berühmten gelben Strickjacke hochzuladen, die zur Uniform gehört. Schon dann würden Nachrichten von Agenturen eintreffen, die mit den Schülerinnen und Schülern von SOPA in Kontakt treten wollen. "Ist oft so", sagt Aurelia beim Mittagessen in der Mensa.
Aurelia sei auch schon von einer Agentur kontaktiert worden, habe dabei aber kein gutes Gefühl gehabt. Immerhin ist K-Pop nicht nur für nahezu perfekt produzierte Musik bekannt, sondern fällt auch immer mal wieder durch die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen auf. Die Schattenseiten des Geschäfts sind gut dokumentiert. Oft werden Talente schon als Kinder gecastet und dann von den Entertainmentagenturen genau in ihrer Entwicklung verfolgt und bewacht.
Wer dann ein Star ist, darf sich keine Fehltritte erlauben - wozu Drogenkonsum genauso zählen wie Liebesbeziehungen. Nicht jeder Heranwachsende hält dem Stand. Über die letzten Jahre wurden mehrere verehrte Darsteller zu Gefängnisstrafen wegen Zuhälterei oder Vergewaltigung verurteilt, andere schieden offenbar mit Suizid aus dem Leben. Auch in koreanischen Medien werden solche Fälle mitunter damit erklärt, dass den oft jungen Stars ein normales Jugendleben fehlt, wenngleich sie in ihren Songs oft vom glitzernden Leben singen.
Es geht um viel Geld
Es geht um sehr viel Geld. Eine Studie des Hyundai Research Institute schätzte den Beitrag, den allein die beliebteste K-Pop-Gruppe BTS zur südkoreanischen Volkswirtschaft leistet, auf rund 3,5 Milliarden US-Dollar, zuzüglich indirekter Effekte von 1,26 Milliarden US-Dollar. Jeder dreizehnte Auslandstourist, der nach Südkorea reist, soll wegen der Liebe zu BTS gekommen sein. Südkoreas Softpower, also eine Art Markenidentität des Landes mit weltweitem Wiedererkennungswert und daraus hergeleitetem weltpolitischem Gewicht, ist wohl durch nichts so gestiegen wie durch K-Pop.
Aurelia will den Schritt zu einer Agentur mit Bedacht wählen. Auch deshalb, weil sie sich erst noch weiter auf die Schule konzentrieren und sich musikalisch besser ausbilden will. Ein Leben weit weg von ihren Eltern und Freunden daheim nimmt sie dafür in Kauf. Abends bleibt Aurelia, wie andere auch, oft bis neun Uhr in der Schule, um noch zu üben und auch den regulären Schulstoff nicht zu vernachlässigen. Die Kölnerin wohnt bei einer Freundin, in einem Zimmer, das kleiner ist als das im Elternhaus. Aber das mache ihr nichts:
"Ich bin definitiv selbständiger geworden. Also jetzt kann ich auch alleine sein. Am Anfang hab ich meine Eltern schon sehr vermisst. Aber jetzt geht es." Ob Aurelia eine große Karriere hinlegt, steht derzeit genauso in den Sternen wie die Frage, ob K-Pop auch in ein paar Jahren noch weltweit beliebt sein wird. Schuldirektor Lim Ho-seong gibt sich zuversichtlich: "Früher standen Musik und Schule eher in Konkurrenz zueinander. Deswegen haben viele Eltern die Neigungen ihrer Kinder nicht unterstützt. Jetzt aber stehen mehr Eltern hinter ihren Kindern, wenn die Musikkarrieren anstreben."
Deswegen werde K-Pop in Zukunft noch mehr große Persönlichkeiten hervorbringen. "Die Musik wird sich weiterentwickeln und der Boom wird weitergehen", glaubt der Direktor. Zumal SOPA zwar die bekannteste Schule ist, die explizit für K-Pop ausbildet - aber längst nicht mehr die einzige.