Ähnlich wie bei seinem Kollegen Ed Sheeran denkt man auch bei einem Konzertbeginn von Lewis Capaldi mit Blickrichtung Bühne zunächst, dass da offenbar gerade der Roadie auftaucht, um noch schnell einmal den Mikrofonständer zu überprüfen.
Wobei, nicht ganz. Dass der schottische Sänger und Songwriter wie im Abendoutfit für eine etwas hemdsärmeligere Fête Blanche für Übergrößen zumindest aus dem Bühnenboden gestiegen kommt und seine vierköpfige Begleitband im Hintergrund bereits auf LED-umrandeten Podesten Platz genommen hat, hilft dann doch dabei, den heute 26-Jährigen als den eigentlichen Star des Abends zu identifizieren.
Fantastilliarden Streams
Sprechen wir vom Ed-Sheeran-Syndrom: Besonders viel Glamour ist am Dienstag in der Wiener Stadthalle nicht nur nicht zwangsläufig gefragt, sondern sogar eher unerwünscht. So lässt es sich besser in dem Glauben weiterleben, dass der als Pubsänger vorerfahrene Neo-Popstar, der tatsächlich aussieht, als würde er uns am Abend mit einem launigen Schmäh auf den Lippen ein frisches Pint über die Budl schieben, noch immer einer von uns ist. Tatsächlich steht der junge Mann mit der Tourette-bedingt zuckenden Gesichtspartie am Beginn einer Weltkarriere, für die schon eine Pandemie nötig war, um sie dann doch noch kurz auszubremsen. Die im Fantastilliardenbereich angesiedelten Streams seiner Ballade "Bruises" wurden großteils bereits in der Frühphase als No-Name ohne Plattenvertrag eingeheimst.
Dafür, dass nach seiner Entdeckung durch einen Marktmajor in kurzer Zeit sehr viel Arbeit anstand, hat sich Lewis Capaldi übrigens auf seine Art und Weise revanchiert. Sein unter dem plötzlichen Leistungsdruck einer nahenden Deadline entstandenes Debüt- und bisher einziges Album aus dem Jahr 2019 trägt den dann doch etwas eigenwilligen Titel "Divinely Uninspired To A Hellish Extent". Als uninspiriert würde man die darauf gebotenen Lieder zwar nicht unbedingt bezeichnen. Allerdings erwies sich Capaldi dabei als One-Trick-Pony, dessen wahlweise am Klavier oder an der Gitarre gegebenes sowie mitunter äußerst vorsichtig von einer Band unterstütztes Material sich beinahe ausschließlich aus Break-up-Songs speist, die im immergleichen Trantütenmodus an die larmoyanteren Stücke aller James Blunts und Ed Sheerans da draußen erinnern.
In der Wiener Stadthalle hat das zunächst also einmal das Potenzial, den traurigsten Valentinstag aller Zeiten mit sich zu bringen. Heul, schluchz, buhu! Diesbezüglich hat man sich dann aber doch etwas geschnitten. Immerhin durfte man sich schon bisher darüber wundern, warum diese uniform traurigen Lieder ausgerechnet von jemandem geschrieben werden, der mit seinem Social-Media-Auftritt sowie in Interviews vor allem seine humorvolle Seite präsentiert. Diese Luftballons, die das Publikum da für ihn aufgeblasen hat, seien, so Lewis Capaldi etwa in einer Zwischenansage, zwar recht hübsch, aber hallo, wenn man sie umdreht, schauen die doch aus wie ein Hodensack, bitte!?
Selfies mit der ersten Reihe
Live stellt uns das nach der ersten Konfettibombe bereits bei Song Nummer eins vor ein gewisses Problem. Lewis Capaldi will das "Beste" aus beiden Welten vereinen und macht leut- und redselig einen auf Schmähbruder. Wenn sich der Sänger gerade wieder einmal so massiv über sich selbst zerkugelt, dass er eine seiner Trennungsballaden nicht mehr weitersingen oder zu Ende bringen kann - Sch(m)erz ist Trumpf! -, hat er selbst bei den noch unveröffentlichten Songs seines für Mai angekündigten zweiten Albums glücklicherweise aber zumindest ein sehr textsicheres Publikum, das den Job für ihn erledigt.
Es sei denn - kreiiiiiisch! -, er ist ohnehin gerade damit beschäftigt, Genesungswünsche aus einem ihm zugeschmissenen BH vorzulesen, Selfies mit der ersten Reihe zu machen oder darüber zu berichten, wie es sich anfühlt, Harry Styles zu küssen - Oh! My! God! Irgendwie muss man mit den lediglich zwölf dargebotenen Songs, die eine Nettospielzeit von einer knappen Dreiviertelstunde ergeben, ja auf ein halbwegs abendfüllendes Programm kommen, das dann nach immerhin 80 Minuten mit dem Über-Hit "Someone You Loved" als einzige Zugabe zu Ende geht.
Davor wurde mit der aktuellen Single "Forget Me" und der Killers-Paraphrase "Heavenly Kind Of State Of Mind" vor 11.000 Besuchern - nein, pardon, vor 10.999 Besucherinnen und dem einen Typen, der sich in der VIP-Lounge am Handy dann doch lieber Paris Saint-Germain gegen Bayern München angesehen hat - beinahe noch so etwas wie Schwung in die Halle gebracht. Hey, geht doch! Sich für das nächste Mal statt dem Geplapper freiwillig mehr Songs zu wünschen, wäre aber wahrscheinlich trotzdem verwegen.