Mit dem Tod kennt sich diese Band bekanntlich gut aus. Insofern ist es nur konsequent, dass sie auf dem Cover ihres jüngsten Albums ein flügelförmiges Trauerbukett auf schwarzem Hintergrund präsentiert - und ihrem mittlerweile 15. Longplayer den Titel "Memento Mori" gegeben hat. Die lateinische Formel, die sich sinngemäß mit "Sei dir der Sterblichkeit bewusst" übersetzt, wurde im antiken Rom als Mahnung aus Sklavenmund an siegreiche Feldherren gerichtet: "Respice post te, hominem te esse memento" - "Sieh dich um und bedenke, dass auch du nur ein Mensch bist."

Chefsongwriter Martin Gore hat dem Himmelreich seiner Band Depeche Mode angesichts des damals noch weit entfernten Todes bereits als junger Mann einige Göttersongs geschenkt. Im Jahr 1986 etwa wurde die Banalität des Sterbens ausgerechnet bei einem schnellen Blick auf die Windschutzscheibe erkannt - und von der Notwendigkeit vieler kleiner Tode auf Erden in Schach gehalten: "Death is everywhere / There are flies on the windscreen for a start / Reminding us / We could be torn apart tonight ... / Come here / Kiss me / Now."

Hommage an einen Freund

Die 1997 auf dem bis heute sträflich unterschätzten Meisterwerk "Ultra" gereichte Überlebensballade "Home" wiederum war dann bereits realbiografisch beeinflusst. Depeche Mode hatten damals als Band wie auch als Einzelpersonen gerade noch die Kurve gekratzt. Nach dem Beinahe-Tod von Sänger Dave Gahan Mitte der 1990er Jahre nach einer Überdosis und einem Suizidversuch waren Therapie und Selbstfindung angesagt. Heute als nüchternster Frontmann der Popgegenwart in blendender Form, als Sänger der Soulsavers auch abseits der Band aktiv und in dieser mit dem gleichfalls längst abstinenten Martin Gore auch künstlerisch wiedergenesen, folgte mit dem Tod von Andy "Fletch" Fletcher im Mai des Vorjahres ein unerwarteter Schicksalsschlag. Ausgerechnet der nie mit Exzessen aufgefallene Keyboarder verstarb als erstes Mitglied Depeche Modes nach einer Aortendissektion im Alter von nur 60 Jahren.

"Memento Mori" war zu diesem Zeitpunkt schon geschrieben, die Band bereit, wieder gemeinsam ins Studio zu gehen. Das ursprünglich von der Covid-19-Pandemie inspirierte Album und sein sich durch die zwölf Songs ziehendes Grundmotiv der Hinfällig- und Endlichkeit hätten dadurch aber neue Bedeutung erhalten, so Martin Gore. Und tatsächlich kam bereits die Vorabsingle "Ghosts Again" als Popsong gewordene Hommage an Andy Fletcher daher, die Anton Corbijn im dazugehörigen Musikvideo auch mit einem Querverweis an Ingmar Bergmans frühen Filmklassiker "Das siebente Siegel" geschickt inszenierte.

Eingespielt wurde "Memento Mori" wie der politisch gefärbte Vorgänger "Spirit" von 2017 wieder mit James Ford, allerdings auch mit der jungen italienischen Produzentin und Toningenieurin Marta Salogni. Deren Handschrift ist nicht nur im reichhaltigen Klang des Albums erkennbar. Vor allem ihre als Echos aus dem Zwischenreich geisternden Loops, Feedbacks und Soundschleifen ziehen bei Stücken wie dem samt Post-Punk-Bass und metallischem Gitarrenmotiv auffahrenden "My Favourite Stranger" eine weitere Ebene ein. Der Tod wird hörbar.

Den Auftakt macht ein dunkles Pochen, Pumpen und Schaben: Mit dem letzten für das Album geschriebenen, atmosphärisch-dräuenden "My Cosmos Is Mine" stemmt sich Martin Gore nicht zuletzt gegen die Verheerungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, ohne diesen auch explizit zu erwähnen, bevor das auf einem Synthie-Arpeggio zwischen Kraftwerk ("Europa Endlos") und The Who ("Baba O’Riley") angerichtete "Wagging Tongue" und mit "Don’t Say You Love Me" so etwas wie der um eine Dosis Angelo Badalamenti und Ennio Morricone erweiterte James-Bond-Song der Band mit Streichern, Twang-Gitarre und großer filmischer Geste bereits die Bandbreite des Albums erklären.

Für diese ist womöglich auch eine tatsächliche Überraschung verantwortlich: Erstmals in der Geschichte von Depeche Mode hat Martin Gore mit Richard Butler von den Psychedelic Furs einen externen Partner an Bord geholt, unter dessen Hilfe zumindest vier Songs geschrieben wurden, darunter mit "Caroline’s Monkey" auch ein Höhepunkt des Albums zum Thema Sucht und Abhängigkeit.

Auferstehung im Tod

Aufgenommen zu Hause bei Martin Gore in Montecito sowie in Rick Rubins Shangri-La-Studios in Malibu, hört man mit "Memento Mori" ein Album, das gut beginnt - und sich stark steigert. Vor allem die zweite Hälfte braucht sich vor alten Großtaten zwischen "Black Celebration" (1986), "Music For The Masses" (1987) oder dem ikonischen "Violator" (1990) nicht zu verstecken. Mit "Soul With Me" als einzigem diesmal von ihm selbst eingesungenen Song etwa schreibt sich Martin Gore inhaltlich nahe an Leonard Cohens "Tower Of Song" endgültig in die Ewigkeit ein, während er eine Outerspace-Ballade im Geiste Frank Sinatras in Richtung Gospel treibt. "People Are Good" - Nachsatz: "Keep fooling yourself" - erweitert Kraftwerk um etwas Funk und ein wenig Blues, "Always You" biegt mit einem Anhauch von Reggaeton um die Ecke, und bevor Dave Gahan das Album mit dem vertonten Nahtoderlebnis "Speak To Me" ins Nachleben gleiten lässt, sollte das händeringende "Never Let Me Go" nicht zuletzt mit seiner wiederbelebenden Bridge auch über die Fanbasis hinaus für Glückstränen sorgen.

Depeche Mode hören und sterben: Ausgerechnet im Tod feiert die auf tragische Weise zum Duo geschrumpfte Band jetzt ihre Auferstehung. "I’m ready for the final pages / Kiss goodbye to all my earthly cages / I’m climbing up the golden stairs / And I’m taking my soul with me." Unmöglich, da keine Gänsehaut zu bekommen.