Der Spuk war ebenso rasch gekommen, wie er wieder verschwunden war: Am Wochenende war das Lied "Heart On My Sleeve" im Internet aufgetaucht und hatte sich rasant über die sozialen Medien verbreitet, am Dienstag war es aus dem Netz weitgehend entfernt worden. Dazwischen hatte es für Furore, aber auch Kontroversen in der Musikbranche gesorgt.
Der Stein des Anstoßes? "Heart On My Sleeve" ist dem Anschein nach ein Duett zweier Superstars: Der kanadische Rapper Drake ist vermeintlich in der ersten Strophe zu hören, in der zweiten sein Landsmann, der Sänger The Weeknd. Tatsächlich war an der Produktion aber keiner der beiden beteiligt. Die Stimmen sind mithilfe einer Künstlichen Intelligenz (KI) generiert worden, behauptete ein gewisser "Ghostwriter977", der den Song anfangs auf TikTok gepostet hatte. Zudem erklärte er, das Lied sei auch von einer KI komponiert worden. Eine Angabe, die sich nicht überprüfen lässt.
KI-Jackson singt "Get Lucky"
Der Song bot dennoch genügend Sprengstoff. Er hatte nicht nur die Stimmen zweier Superstars "entführt", sondern es dank seiner Ohrwurmqualität auch auf eine stattliche Anzahl Klicks gebracht. Ein Umstand, der die Musikindustrie natürlich in Alarmzustand versetzte. Innerhalb weniger Tage verschwand "Heart On My Sleeve" weitgehend aus dem Internet - ob auf Betreiben von Universal Music (die Firma vertritt Drake und The Weeknd), ist unbekannt.
Der Spuk dürfte trotz dieser Schritte aber nicht so bald aufhören: "Das ist nur der Anfang", schrieb Ghostwriter977 unter das gelöschte Video auf YouTube und sprach damit wohl keine leere Drohung aus. Immerhin haben sich musikalische KIs in den Vorjahren stark entwickelt. Wer YouTube nach Beispielen durchsucht, findet etliche: Da singt ein vermeintlicher Michael Jackson den Disco-Hit "Get Lucky", der erst nach seinem Tod entstand, da werden "neue" Songs der verblichenen Gitarren-Ikone Jimi Hendrix vorgestellt und der aufgelösten Kult-Band Nirvana - alles angeblich komponiert und produziert von der KI.
Tatsächlich muss man die Kirche in der Hinsicht allerdings (noch) im Dorf lassen. Zwar sind künstliche Intelligenzen auf grafischem Gebiet mittlerweile erstaunlich reif: Mit wenigen konkreten Vorgaben erzeugen sie Bilder, die sich völlig unkompliziert als Poster oder Magazincover verwenden lassen - nicht zuletzt deshalb, weil keine Gebühren im Sinne des Urheberrechts anfallen.
Im Musikbereich sind die KIs aber noch nicht so weit gediehen - oder jedenfalls noch nicht in allen Stilen einsetzbar. Brauchbar scheinen sie vorerst dort zu sein, wo dekorative Klänge gefragt sind, also Hintergrundmusik; Firmen wie Ecrett Music und Aiva bieten bereits entsprechend "lizenzgebührenfreie" Sounds an. Für Aufsehen sorgte zuletzt Google: Der Konzern stellte im Jänner die KI MusicLM vor, die angeblich mit 280.000 Stunden Musik trainiert wurde und sich weiterhin "in Ausbildung" befindet. Wie eine Grafik-KI spuckt auch MusicLM seine Ergebnisse auf Basis von wenigen, konkreten Vorgaben aus. Die präsentierten Beispiele vom Anfang des Jahres sind im instrumentalen Pop angesiedelt und wirken als Klangtapeten für Film, TV oder Videospiele durchaus brauchbar. Es ist jedoch unklar, ob MusicLM durchwegs auf dem Niveau komponiert.
Der Mensch muss helfen
Je komplexer die Musik, desto schwerer fällt der KI aber die Komposition. Das zeigt sich nicht zuletzt bei den erwähnten "Neuheiten" von Hendrix und Nirvana. Die KI war mit den Hits der Ikonen gefüttert worden und sollte auf dieser Basis neue Bestseller auswerfen. In beiden Fällen führte das zu Audiotracks, die zwar ein legendäres Klangbild reproduzieren - aber in Form eines läppischen Songs. Und: Zumindest an "Drowned in the Sun" war auch noch ein Team echter Musiker beteiligt, das die "besten Momente" der Nirvana-KI auswählte und so die Letztverantwortung trug.
Ähnlich ist es in der Klassik: Als eine KI Beethovens Zehnte Symphonie "finalisierte", hatte sie Beihilfe von einem Komponisten aus Fleisch und Blut - und lieferte dennoch peinlich schwache Ergebnisse. Auch als Schuberts Unvollendete von einem Huawei Handy "vollendet" wurde, befand sich ein Tonsetzer mit an Bord (worüber freilich nur das Kleingedruckte informierte).
Allerdings: Das ist nun auch schon vier Jahren her. Und KIs lernen rasch. Darum rät der englische Komponist und Youtuber David Bruce, das Phänomen nicht zu belächeln. Mögen manche dieser "intelligenten" Musikprogramme heute noch unbeholfen wirken und ihre Ergebnisse an die miesen KI-Illustrationen aus früheren Jahren erinnern: "Täuscht euch nicht, sie sind schon sehr stark auf ihrem Weg."