Als der Trommelwirbel den Höhepunkt erreicht, rufen zwei hohe Stimmen: "Ich bin ein stolzes Big Body Girl!" Zum Refrain aufbauend haben sie noch davon gesungen, was ihnen ständig an den Kopf geworfen werde: dass sie sich wohl gern mit Essen vergnügen; dass sie sich nicht immer den Magen vollschlagen, sondern sich zusammenreißen sollten; und dass sie so, wie sie aussehen, nicht schön seien.
Aber diese Gruppe sieht das heute anders. Big Angel nennen sie sich, sind derzeit in Zweierbesetzung und haben sich die gesellschaftlichen Normen ihres Heimatlandes zum Arbeitsthema gemacht. "Wir wollen positive Lieder machen", sagt Michiko Ohashi, die die Band zwei Jahre vor der Pandemie gründete. "Wenn wir zum Beispiel von der Aufforderung singen, eine Diät zu machen, sympathisieren wir mit denen, die aber einen guten Appetit haben. Alle unsere Lieder haben diese Stoßrichtung."
Big Angel sehen sich als Advokatinnen der Körperpositivität - und schlagen damit in Japan hohe Wellen. Auf TikTok haben sich bereits mehr als 27 Millionen ihre Kurzvideos angesehen, auf Twitter haben sie immerhin an die 13.000 Follower, im japanischen Fernsehen treten sie immer wieder auf. Denn schon ihr Aussehen spricht für sich: Michiko Ohashi, die gern in knappen Kleidern auftritt, erklärt stolz, dass sie 109 Kilo auf die Waage bringt - genauso viel wie ihre Partnerin Eri Tada.
Damit stehen sie im Widerspruch zu ihrer Branche. Wie fast überall auf der Welt bevorzugt die Musikindustrie eher Interpretinnen und Interpreten, die schlank oder muskulös sind. Und diese Schönheitsnorm, die durch das Aussehen von Popstars meist weiter bekräftigt wird, ist in Japan besonders dominant. Im J-Pop sind praktisch alle Frauen dünn. Schon ein Gewicht von 55 Kilo gilt im ostasiatischen Land als schwer.
Hungern ist nicht okay
Michiko Ohashi, die früher mal 54 Kilo gewogen hat, kennt den sozialen Druck gut: "Damals fand ich mich selbst noch zu dick", erinnert sie sich und muss bitter lächeln. "Das ging über Jahre so. Nach dem Schulabschluss kam ich von Fukushima nach Tokio, um hier eine Musikkarriere zu machen. Da hab ich dann noch mehr gehungert, um den Idealmaßen zu entsprechen." Schließlich sah sie nicht nur in anderen Popgruppen lauter dünne Frauen. Das Schlankheitsvorbild ist omnipräsent.
Jugendmagazine in Japan erklären ihrer Leserschaft nicht selten, wie sie abnehmen müssen, um einen vermeintlichen Idealkörper zu haben. Aber Michiko Ohashi, die in Tokio diverse Auditions wahrnahm, um in eine Popgruppe aufgenommen zu werden, gab schließlich auf. "Irgendwann dachte ich: Das ist doch nicht gesund! Und sobald ich mit dem Hungern aufhörte, hatte ich 20 Kilo mehr auf den Rippen. Bald wurde es noch mehr." Zuerst habe sie sich schuldig gefühlt. "Aber irgendwann dachte ich: Das ist doch okay. Essen bringt doch Spaß!"
Da kam Michiko Ohashi die Idee einer Popgruppe, die das Dicksein zelebriert. Über ihre paar Kontakte, die sie in der J-Popbranche gesammelt hatte, startete sie eine Ausschreibung, mit der sie ausdrücklich übergewichtige Frauen suchte. Als sich Big Angel 2018 gründete, war zunächst eine fünfköpfige Truppe beisammen. Heute sind zwei von ihnen übrig. Dabei hat Ohashis Partnerin Eri Tada einen anderen Hintergrund: "Ich war eigentlich immer dick", erklärt sie. "In der Schule wurde ich dafür auch gehänselt. Schmerzhafte Erfahrungen gab es viele."
So kann das Duo für seine Texte Erfahrungen einbringen, die wiederum diverse junge Japanerinnen und Japaner nachvollziehen können. Denn auch wer im ostasiatischen Land schlank ist, steht unter Druck, dem Standard zu entsprechen - nicht nur in Bezug auf das Gewicht. Generell ist die japanische Gesellschaft von strengen Normvorstellungen geprägt, die minutiös befolgt werden: Wer nicht mit 22 Jahren seinen Uni-Abschluss hat, gilt auf dem Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar. Wer keinen Vollzeitjob hat, findet schwieriger einen Partner zum Heiraten.
Dicke und magersüchtige Fans
Beispiele für eng gehaltene Normen gibt es viele. Aber das Abweichen vom Schlankheitsideal ist besonders stigmatisiert. So freut sich das Musikduo bei seinen Auftritten vor allem darüber, dass es ganz verschiedene Fans habe: "80 Prozent unserer Fans sind zwar weiblich", sagt Eri Tada. "Aber sie kommen in ganz unterschiedlichen Altersgruppen und Körpern. Wir haben dicke Frauen im Publikum und auch solche, die magersüchtig sein könnten."
Leicht ist das Leben als dicke Popgruppe aber kaum. Ein größeres Label hat Big Angel bis jetzt nämlich nicht unter Vertrag nehmen wollen, was beachtlich ist, denn für originelle Ideen ist die Branche eigentlich immer zu haben. So produzierte vor ein paar Jahren eine Popgruppe, die aus Transfrauen bestand, einige Schlagzeilen. Zuvor hatte eine Girlgroup voller Seniorinnen eine kurzlebige Ruhmphase erlebt. Nur sorgt Übergewicht in Japan, wo die Menschen in der Regel auch dünner sind als anderswo auf der Welt, eben für besonderen Gegenwind.
Die Mitglieder von Big Angel spüren ihn nicht nur in Form von Hasskommentaren in sozialen Medien. "Meine Eltern waren dagegen, dass ich das Dicksein zum Motto einer Popgruppe mache", erinnert sich Ohashi. "Das sei doch nicht gesund, sagten sie." Als Bandkollegin Eri Tada das hört, fährt sie dazwischen: "Aber Hungern ist es auch nicht!" Das dachte sich wiederum auch Michiko Ohashi: Bekräftigt durch ihre gleichgesinnten Bandmitglieder nahm sie weiter zu. Und obwohl sie nun mehr als doppelt so viel wiegt wie zum Tiefpunkt ihrer Magersucht, fühle sie sich wohler als je zuvor.
Bei ihren bekanntesten Liedern - neben "BBG" für "Big Beautiful Girl" sind das "Fat Wonderful World" und "Daietto Hajimenakya" ("Ich soll eine Diät machen") - war bis jetzt kein richtiger Chart-Breaker dabei. Aber das kann noch kommen. Neben ihren eigenen Konzerten treten Big Angel als Indie-Band vermehrt als Bühnenprogramm größerer Gourmet-Messen auf. Denn, so die beiden, da seien nicht nur die Gagen attraktiv - man spreche auch gleich zu einem Publikum, das verstehe, wie schön Essen sei, wenn man es genießen könne.