Eine Zeit lang war es modern, Interviews mit sogenannten Wordraps abzuschließen. Der oder die Befragte sollte nur mit einem Wort antworten. Bei einem solchen Assoziationsspiel ihre eigenen Songs betreffend antwortete Tina Turner vor einiger Zeit auf "Proud Mary" mit "Freiheit". Für einen rasch produzierten Radiojingle ist das vielleicht nur so mittelknackig. Bei Tina Turner erzählen nur diese drei Worte eine ganze, ihr Leben maßgeblich bestimmende Geschichte.
Tina Turner hörte "Proud Mary", ursprünglich ein Song von Creedence Clearwater Revival, Ende der 60er im Radio und beschloss sofort, dass es ihrer werden müsste. Doch Ike, ihr damaliger Partner bei "Ike & Tina Turner" war dagegen. Nun war das nicht einfach nur ein kleiner Diskussionsbedarf. Das war eine Betonbarriere. Mit Stacheldraht. Und Selbstschussanlage. Denn Ike war Tinas Ehemann, ein überaus dominanter und gewalttätiger Mensch. Er bestimmte alles, was Tina machte. Und wie sie es machte. Sogar den Künstlernamen hat er der als Anna Mae Bullock Geborenen eigenmächtig gegeben – gefragt, ob sie Tina heißen will, hat er sie nicht. Nun mochte Ike eine starke Hand oder auch Faust im Gesicht seiner Frau gehabt haben. In kreativen Fragen hatte er keineswegs ein sicheres Händchen. Das Duo hatte sich als R&B- und Soulgruppe in den späten 50ern und 60ern schon beachtliches Renommee erarbeitet. Aber der große Hit war noch nicht dabei gewesen.

Mut zum Schaufelrad

Aber dann kam "Proud Mary". Tina setzte sich durch. Welche Kraft dafür nötig war, ist vielleicht kaum vorzustellen. Bei Ike konnte sie nur verlieren: Würde es kein Hit, würde er sie bestrafen. Würde es ein Hit, würde er sie auch bestrafen – weil sie, und nicht er die Idee gehabt hatte.
Es wurde ein Hit. Tina Turners mächtiger Mut machte sich bezahlt – denn dieser Song sollte 1971 der Startschuss für ihre Befreiung werden, der Beginn einer eigenständigen, beispiellosen Karriere. "Freedom", wie sie eben im Wordrap sagte.
Man könnte "Proud Mary" – diese langsam sich entfachende Explosion von einem Lied, die berühmte "Schaufelrad"-Tanzbewegung wird immer noch gerne zitiert – als exemplarisch für Tina Turners Bühnenkunst beschreiben. Wenn sie nicht schon so viele Jahre zuvor ihre raue, rabiate Stimme und ihre bestechende Bühnenpräsenz bewiesen hätte. Schlüpfrig waren ihre Texte, wild ihre Auftritte. "Das klingt, als würde sie Dreck aus ihrer Kehle schreien", schrieb einer der ersten Kritiker über sie. Das war übrigens positiv gemeint. Sieht man sich Videos von Duetten mit ihr auf YouTube an, kann man feststellen, wie selbst ganz große Größen von Mick Jagger abwärts durchaus würdig und gut gelaunt daran scheitern, neben Tina Turner zu bestehen. Aber nicht, weil sie so eine egoistische Gesangspartnerin gewesen wäre, sondern weil sie einfach diese unhaltbare Urgewalt war. Die bei ihren Auftritten eine große Fröhlichkeit versprühte. Und diese unglaublichen Beine wild tanzen ließ.

Paris, 1987: Turners Solo-Karierre ist angelaufen. 
- © afp / Bertrand Guay

Paris, 1987: Turners Solo-Karierre ist angelaufen.

- © afp / Bertrand Guay

Der "Original-Jagger"

1939 wurde Anna Mae Bullock in Nutbush, Tennessee, geboren, dieses Südstaatenmilieu sollte sie in einem ihrer Hits verewigen. "Nutbush City Limits" und "River deep – Mountain high" sind jene Songs, die aus ihrer Verbindung mit Ike am meisten in Erinnerung bleiben. Als Solokünstlerin musste sie – mit fast 40 Jahren, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen – fast neu anfangen. Inklusive Putzjobs. Aber 1984 schaffte sie mit "Private Dancer" den Sprung zurück. Es folgten jene vielen Lieder, die sie in die Pop- und Rockgeschichte als Säulenheilige einmeißelten: "What‘s Love Got To Do With It", "We Don‘t Need Another Hero", "Typical Male", "Simply The Best".
Dass einmal ein Kritiker sie den "Original-Jagger" genannt hat, zeigt, dass es sich für Tina Turner letztendlich ausgezahlt hat, ihren prägenden Platz als Frau im Rock‘n‘Roll mit lächelnder Hartnäckigkeit zu erarbeiten und verteidigen. Und dass man Turner bereits als Rock-Oma bezeichnete, als sie knapp 50 Jahre alt war, gehört zu den Unverschämtheiten der Jugendsucht-Branche. Sie zahlte es ihr heim, indem sie ihr allerletztes Konzert quasi am Vorabend ihres 70. Geburtstags gab. Brachiales Beineschmeißen inklusive.
Tina Turner war einer der Fixsterne am Firmament der letzten großen Stars mit unverwechselbarem Charisma und unaussprechlichem Styling. Heutige weibliche R’n’B-Topverdiener wie Beyoncé verdanken der Frau, die einst nach der Scheidung von Ike neben von ihm verursachten Schulden nur mit einem berühmten Namen dastand, viel. Am Mittwoch ist sie mit 83 Jahren gestorben. Nicht viele Popstars vereinen verschiedene Generationen in Trauer – Tina Turner tut es.