Berthold Seliger (1960) lebt in Berlin und ist seit 26 Jahren Tourneeveranstalter.  - © Laschitzki
Berthold Seliger (1960) lebt in Berlin und ist seit 26 Jahren Tourneeveranstalter.  - © Laschitzki

Weltweit gibt es 1426 Milliardäre. Einer davon ist der Deutsche Klaus-Peter Schulenberg, Chef von Eventim, dem größten Tickethändler Europas. Er hat es binnen 17 Jahren geschafft, in die Liste der reichsten Menschen zu kommen. Wie ist das möglich? Das Ticketgeschäft ist ein eines Provisionsgeschäft, besonders beim Internetverkauf liegt die Wertschöpfung sechsmal höher als beim normalen Verkauf, schreibt der Berliner Konzertveranstalter Berthold Seliger in seinem Buch "Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht." (erschienen 2013 im Tiamat Verlag). Seine Hauptthese: In den vergangenen Jahren kam es in allen Bereichen der Musikindustrie zu einer gewaltigen Monopolisierung. Diese neuen Megakonzerne bedrohen die Vielfalt der Popmusik.  Die "Wiener Zeitung" traf den Autor auf seiner Lesereise durch Österreich im Welser Schlachthof.

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Wiener Zeitung: In ihrem Buch schreiben Sie, dass die Musik heute brav ist und nur ein "like" auf Facebook will. Steckt hier nicht ein nostalgischer Bick zurück dahinter: Früher war alles besser - auch die Musik?

Berthold Seliger: Überhaupt nicht.

Was stört Sie dann daran?

Mich stört die angepasste Weltzustimmungsmusik. Diese Musik will nur eine kleine Zustimmung, sie will aber nicht aufrütteln. Aber genau das sollte Kunst machen. Wenn Sie aus einer großartig gespielten Beethoven-Symphonie aus dem Konzertsaal gehen, dann ist im Idealfall die Welt eine andere: Es werden Perspektiven mitgeteilt, die Ihren Kosmos ändern können. Das kann und soll Kunst machen. Musik soll klar formuliert und anspruchsvoll geschrieben sein, damit sie die Welt und die Menschen verändern kann.

Popmusik, Popkultur – verstehen Sie Pop in dieser Hinsicht, als  subversiv, rebellisch oder mehr im Sinne von populär, von Massenkultur.

Der Begriff beinhaltet beides. Popkultur kommt vom Rand der Gesellschaft, von "outside the society", wie Patti Smith singt. Ich denke nicht, dass man aus der Mitte der Gesellschaft große Kunst machen kann, die die Gesellschaft vorantreibt. Dass Popkultur heutzutage auch einen Mainstream-Aspekt hat, das ist ganz klar. Madonna zum Beispiel ist ja definitiv Teil der Popkultur und definitiv Mainstream. Was allerdings kein Qualitätskriterium ist, weder in diese noch in die andere Richtung.

Und die subversiven Elemente des Pop werden auch  immer vom Mainstream übernommen.

Ja. Doch will  man präziser analysieren, hilft einem der Gedanke Mainstream nicht weiter. Letztendlich ist das eine Frage der Kulturindustrie. Diese hat bestimmte Absichten. Sie produziert Kultur nach kapitalistischen Kriterien – nämlich Profit zu machen und gleichzeitig "Ja zur Welt" zu sagen. Die Kulturindustrie will möglichst simple, gefällige Musik herstellen, die von möglichst vielen gekauft wird - von den Massen, sozusagen. Das ist der entscheidenden Punkt: Mainstream ist nur eine Mengenbezeichnung. Dagegen zeigt der Gedanke der Kulturindustrie, dass es nicht die Künstler sind, die dafür sorgen, dass ihre Musik zum Produkt wird, sondern dass die  Verwertungsindustrie dafür sorgt, dass das Produkt, das konsumiert wird, zur Mode, zur Ware wird. Und die Kulturindustrie saugt die Moden immer schneller auf: so hat es bei Punk noch ein paar Jahre gedauert, um in die Mainstreamkultur einzugehen, bei Grunge ging das schon viel schneller.

Welche strukturellen Veränderungen sehen Sie dahinter?

Die Gesellschaft, die Produktionsbedingungen, sind härter geworden. Die neoliberale Version des Kapitalismus ist um ein paar Klassen brutaler als der Rheinische Kapitalismus, wie ihn Max Weber in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieben hat. Außerdem sind wir umzingelt von brutalen Methoden der Gehirnwäsche, die vor 20 Jahren undenkbar gewesen wären.

Gehirnwäsche – was trägt dazu bei?

Wir haben Verdummungsmaschinerien sondergleichen, wie flächendeckendes Privatfernsehen oder  Facebook. Denken Sie an all das, was heute auf junge Menschen einstürmt. Gleichzeitig lastet auf den jungen Leuten ein irrsinniger Druck, sich ständig selbst optimieren zu müssen, zu funktionieren. Selbst das Studium ist heutzutage einer gnadenlosen Verwertungslogik unterworfen. Warum sollte das nicht in der Kunst, in der Popkultur widergespiegelt werden?

Was kann man dagegen tun?

Das einzige ist wahrscheinlich Aufklärung. Und Bildung. Um bei der Musik zu bleiben: Ich finde es tragisch, dass der Musikunterricht heute immer schlechter wird, oder oft ganz ausfällt. Und ich finde es furchtbar, dass wir öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehstationen haben, die die Breite der Kultur nicht mehr abbilden. So laufen im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit zum Beispiel Shows von Andrea Berg oder Helene Fischer. Ich habe nichts dagegen, aber ich erwarte mir von einem staatlichen Fernsehen, das ja per Gesetzt einen Kultur- und Bildungsauftrag hat, dass dann eine Woche später zur  besten Sendezeit eine Hip-Hop-Band auch anderthalb Stunden spielen darf. Und in der darauffolgenden Woche sollte dann ein Konzert von Claudio Abbado gezeigt werden, das einem Mahler nahe bringt. Und eine Woche später gibt es dann Indie-Rock. Wenn wir in allen Kanälen die Breite der Kultur abbilden, lernen die Menschen ein ganz anderes Angebot kennen. Das ist das eigentliche Ziel. Damit wären wir schon einen ganz großen Schritt weiter.

Wir brauchen ein öffentlich Kulturangebot, das in die Breite geht, das die Vielfalt des kulturellen Lebens abbildet, und das sich wehrt gegen die Kulturindustrie mit ihren Produkten wehrt.  Es war ein massiver Fehler, dass das Privatfernsehen eingeführt wurde. Nicht nur weil es verdummt, was per so schon schrecklich ist, sondern auch, weil dadurch auch das öffentlich- rechtliche Fernsehen nur mehr in Quoten denkt und schlechter geworden ist.

Wird der Einfluss des Fernsehens nicht überschätzt? Die Menschen sind ja nicht dumm, sie   erkennen doch, was Unterhaltung ist und was nicht.

Bourdieu hat einmal sinngemäß gesagt, dass diejenigen, die am vollständigsten der Mittel zur Aneignung von Kunst enteignet sind, auch die am vollständigsten des Bewusstseins dieser Enteignung enteignet sind. Es wäre daher wichtig, kontinuierlich vielfältige Angebote zu schaffen. Dann haben die Menschen tatsächlich die Möglichkeit, auszuwählen. Und wenn sie dann Helene Fischer hören, warum nicht, solange im Fernsehen auch Sendungen über HipHop, Indie-Rock und Klassik laufen. Dass ich frei entscheiden kann, dass ich frei aus dem vielfältigen kulturellen Angebot aussuchen kann, und auch, dass ich die Möglichkeiten kennengelernt habe, aus einem kulturellen Angebot auswählen zu können, all das ist die Grundvoraussetzung eines selbstbestimmten kulturellen Lebens! Das größte Problem ist sicher die fehlende Auswahl durch eine Mischung aus von der Kulturindustrie geprägtem Konsumismus einerseits und Quotenterror andrerseits.

Welche Rolle soll hierbei die Politik übernehmen?

Ich halte wenig von direkten Subventionen für Künstler. Man sollte stattdessen die Strukturen fördern, in denen Kultur stattfinden kann. Die Aufgabe des Staates, der Gesellschaft, ist es eben, ein vielfältiges Angebot zu ermöglichen und Strukturen zu fördern, in der selbstbestimmte Kultur stattfinden kann. Im Bereich der Zeitkultur – ich bevorzuge diesen Begriff gegenüber "Popkultur" - sollte die öffentliche Hand zum Beispiel flächendeckend Spielstätten fördern und gute Lebensbedingungen für Künstler, für die gesamte Gesellschaft, ermöglichen. Das macht der Staat ja auch bei Opernhäusern und bei den großen Theatern. Aber in der Zeitkultur, da sieht das anders aus.
Diese Förderung von großen Häusern ist wohl mit ein Grund, dass dort auch immer mehr Pop-Konzerte stattfinden.

Wichtig hierbei ist, dass man die örtliche Szene beteiligt, indem man ihr zum Beispiel den Spielort zu günstigen Bedingungen zur Verfügung stellt. Verhängnisvoll finde ich es, wenn die großen Bühnen die Szenen vor Ort nicht einbinden. Das ist dann hochsubventionierte Konkurrenz. Denn die lokalen Szenen leisten jahrelang Aufbauarbeit. Ist eine Band dann berühmt, dann kommt plötzlich ein großes Theater daher. Die nehmen ja keine kleinen Bands, sondern etablierte. Und sie locken damit noch ein junges Publikum an und der Abend kommt noch dazu billiger, als wenn sie ein großes Theaterensemble spielen lassen.

Können Musiker die Kulturindustrie überhaupt umgehen?

Musiker haben heutzutage viele Möglichkeiten. Im Idealfall können Künstler heute ohne Umweg über die Verwertungsindustrie selber ihre Kunst an die Menschen bringen. Im Internet oder auf Streaming-Diensten zum Beispiel. Die Produktionsmittel sind sehr günstig geworden und gehören nicht mehr ausschließlich den Produzenten. Das führt auf der anderen Seite natürlich zu einer gigantischen Überflutung des Marktes. Heute kann man relativ billig eine CD aufnehmen oder den gerade aufgenommenen Track am gleichen Abend noch ins Internet stellen. Das finde ich erstmal positiv. Im Idealfall können Künstler ohne Umweg über die Verwertungsindustrie selber ihre Kunst an die Menschen bringen.

Das führt auf der anderen Seite natürlich zu einer gigantischen Überflutung des Marktes. Langfristig wird sich aber die Qualität durchsetzen.

Viele Künstler wollen Musik, aber nicht gleichzeitig ihr eigenes Marketing betreiben müssen, diese Entwicklung ist auch eine zweischneidige.

Man darf nicht vergessen, dass es in der Geschichte nie einfach war, Künstler zu sein. Die Probleme, die ein Künstler heute hat, sind aber sicherlich andere als die, die ein Beethoven hatte.

Ich finde in diesem Zusammenhang die Gedanken von Gilles Deleuze über Kontrollgesellschaften wichtig. Demnach gaukeln einem alle Systeme, darunter auch das Streaming, Freiheit vor: "Du kannst machen, was du willst," heißt es da. Aber die gesellschaftlichen Zwänge, die Selbstoptimierung, das ist natürlich alles inbegriffen – in Wirklichkeit hat man immer eine Käseglocke über sich. Diese indirekte Kontrolle ist eines der Kernprobleme unserer Zeit. Warum sollte das in der Kulturindustrie anders sein?

Schließlich weiß man auch, dass das Internet eine militärische Erfindung ist. Man muss das pragmatisch zur Kenntnis nehmen und das Beste draus machen. Aber man muss auch vorsichtig sein.

Und die Frage ist natürlich auch, wie man faire Bezahlmodelle schaffen kann.

Der legendäre BBC-Musikmoderator John Peel hat mal sehr schön gesagt: "Die Plattenfirmen waren immer schon Investitionsapparate, deren Ziel war es, möglichst viel Gewinn zu machen und davon den Künstlern möglichst wenig abzugeben." Man braucht die Plattenfirmen deswegen nicht verteufeln, aber man muss wissen, dass das erst nicht heute so ist. Die großen Plattenfirmen haben nun einmal kein Interesse daran, die Künstler fair zu bezahlen. Sie wollen Profit machen. It’s that simple.

In ihrem Buch betonen Sie, dass Künstler die Macht haben: Sie können sich zum Beispiel gegen überhöhte Ticketpreise wehren. Können sie das wirklich so einfach?

Der Chef von Live Nation oder CTS Eventim wird sich nicht im Stadion auf die Bühne stellen und für seine Show zehntausende Tickets verkaufen können. Die Leute wollen Musik hören! Wenn die Künstler sich dessen und der Verantwortung gegenüber dem Publikum bewusst werden, dann können sie viel ändern und die Konditionen mitprägen. Ich bin aber auch schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass viele Künstler nur möglichst viel Geld machen wollen. Es gibt eben solche und solche – wie in allen Bereichen einer Gesellschaft.

Sie schreiben auch von Neo-Biedermeier – was meinen Sie genau damit?

Ich finde heute sehr viele Analogien zum Biedermeier des 19. Jahrhunderts: So haben wir wieder eine Art Überwachungsstaat – diesmal in Form eines globalen Überwachungssystems. Und die Menschen ziehen sich zurück, wenngleich aus anderen Gründen: Seit 1991 gibt es in Deutschland mehr als 34 Prozent Produktivitätssteigerung pro Arbeitsstunde! Das heißt natürlich, dass die Leute am Abend fix und fertig sind. Dann wollen sie nur noch unterhalten werden. Oder nehmen Sie die Haltung der Politiker: In Deutschland herrscht ein großes Zaudern, mit dem man sich durchlaviert. Und in Österreich haben Sie ja eine noch größere "Erfahrung" mit dem gesellschaftlichen Stillstand, den große Koalitionen produzieren können. Aber ich weiß natürlich, dass Geschichte sich nicht wiederholt, und wenn, dann nur als Farce.