
Bekannt wurden Brett Anderson und seine Band Suede zu Beginn der 1990er Jahre nicht nur als Vorhut der ihr begrifflich verhassten Britpop-Welle, die in Europa bald mit Oasis und Blur überschwappte. Bekannt wurden sie vor allem auch dafür, musikalisch und ästhetisch inspiriert von David Bowie in seiner Phase als auf die Erde gefallener Alien Ziggy Stardust einerseits und Morrissey als einsamste Gockeldiva und größte Drama Queen am Heimatplaneten Erde andererseits endlich wieder auf Extravaganz und gerne auch Sittenverfall im Rahmen eines biografisch riskanten Lebenswandels zu setzen.
Es ging darum, an der Welt zu leiden und das Leid daheim in London existenzbedrohlich zu kompensieren. Ausschweifung und Exzess, vor allem aber auch Valium und Depression. Postkoitale und nicht zuletzt Koitusersatzdepression. Jung und schön und schwach. Ein wenig vom Heroin- und Crackkuchen naschen! Brett Anderson kokettierte hübsch androgyn im zerrissenen Netz-T-Shirt unter der Lederjacke mit dem Image, ähnlich wie David Bowie ein bisexueller Mann ohne homosexuelle Erfahrung zu sein. Und er war dabei nicht nur extravagant. Er war dabei auf eigene Weise auch elegant und auf jeden Fall flamboyant.
"Wir gegen alle"-Moment
Getragen von akkordbetontem Midtemporock und Andersons markanter Stimme - und rasch in Gefahr gebracht vom Bruch mit Co-Songschreiber Bernard Butler, der die Band im Schlechten verließ -, ging das zwischen 1993 und 1999 vier Alben lang stilistisch in relativ engen Bahnen gut. Andersons biografische Genesung und Hinwendung zur Zuversicht mit der Single "Positivity" vom der Band selbst als Tiefpunkt geltenden letzten und kommerziell gefloppten Album "A New Morning" markierte im Jahr 2002 aber ihr Aus. Anderson flüchtete, nun mit Sakko und Hemd als charismatische Vorahnung einer gewissen optischen Bryan-Ferry-Werdung, in eine introspektive Solokarriere abseits der Stromgitarre und söhnte sich mit dem kurzlebigen Gemeinschaftsduo The Tears davor noch mit Butler aus. Hatte die auch finanziell willkommene Suede-Reunion 2013 mit dem soliden Album "Bloodsports" die Aufgabe, so zu tun, als wäre die zehnjährige Auszeit überhaupt nicht passiert, dürfte danach ein Schalter gefallen sein.
Heute im Alter von 48 Jahren kann und will Anderson als zweifacher Familienvater gediegen von Notting Hill oder seinen Landsitzen aus hörbar nicht mehr ignorieren, dass Zeit als Größe keinesfalls relativ ist. Nein, Zeit ist, wie einst schon die Alten sungen, manifest und erbarmungslos.
Auf dem nun vorliegenden Album "Night Thoughts" darf Anderson zwar mit "Outsiders" einmal mehr das alte Entfremdungs- und spätestens seit Bowies Göttersong "Heroes" popkulturell kanonisierte "Wir gegen alle"-Moment zelebrieren und ein jugendlich-fatalistisches "No Tomorrow" anstimmen, nach dem verlässlich die Sintflut kommt.
Schöngeistiges Leid
Dies allerdings geschieht im reflektierten Blick zurück mit Anderson als lebenserfahrenem Papa Suede unter dem Motto "Ich war dort, ich habe geblutet, und hat es mir geschadet?" beinahe weise. Zwischen vom Titel her lyrisch Rückschau auf Kindheit und Jugend haltenden Songs wie "When You Are Young" oder "Like Kids" und verhandelten großen (Gefühls-)Themen wie heute verstärkt auch Familie ist bei "Tightrope", "I Can’t Give Her What She Wants" oder "I Don’t Know How To Reach You" aber - Ehrensache! - abermals für schöngeistiges Leid an der Liebe gesorgt. Drama Queen muss Drama Queen bleiben dürfen.
Als Konzeptalbum mit fließenden Übergängen, traumgleich verschwimmenden Interludes und aufs Produktionsbudget drückender Streicherumrahmung trägt das standesgemäß dick auf. Weil die 47 Spielminuten fast so schnell vergehen wie besungenermaßen die Jugend, gilt die Unternehmung allerdings als geglückt. Brett Anderson sieht übrigens noch immer fantastisch aus.
Suede: "Night Thoughts"
(Warner Music)