Gediegener Kunstliedjazz: Rüegg und Pale. - © Andreas Lepsi/Universal Music
Gediegener Kunstliedjazz: Rüegg und Pale. - © Andreas Lepsi/Universal Music

Wien. Als die völlig unbekannte Lia Pale vor zwei Jahren ihr Debütalbum vorstellte, war im Porgy & Bess für eine Überraschung gesorgt: Der ominöse Herr "shoE" am Klavier erwies sich nämlich als niemand anderer als Mathias Rüegg. Der war nicht nur Mitbegründer des Wiener Jazzclubs, er hatte ihn auch regelmäßig mit seinem Vienna Art Orchestra bespielt, das im Jahr 2010 den finanziellen Hungertod gestorben war. Nun also stand sein neues Projekt im Rampenlicht: Das Album "Gone Too Far" (Arrangeur angeblich: "shoE"; Komponist: "berT") entpuppte sich als jazzpoppige Adaption von Schuberts "Winterreise". Im Verbund mit der zartschimmernden Stimme von Lia Pale war das ein veritabler Coup.

Tägliche Arbeit


Zwei Jahre später ist Rüegg immer noch für eine Überraschung gut. Zwar hat sich die "Wiener Zeitung" allein mit Pale ein Interview ausgemacht; Rüegg eskortiert die Sängerin dann aber ins Lokal und nimmt wie selbstverständlich neben ihr Platz. Wobei, vielleicht ist das für ihn ja auch selbstverständlich. Der 62-jährige Schweizer mit dem "Kill Bill"-Pferdeschwanz und dem gescheckten Sakko arbeitet nämlich jeden Tag mit der jungen Oberösterreicherin. "Es gibt einfach täglich etwas zu tun", sagt Rüegg mit seinem unverkennbaren Akzent, und Pale nickt.

Die ahnte vor wenigen Jahren noch nicht, wie intensiv die Arbeit mit Rüegg werden würde. Als Gesangsstudentin der Popularmusik hat sie "ab und zu" Rüeggs Pflichtvorlesung an der Musikuni besucht. Als sie sich dabei einmal ans Klavier setzte und "drei, vier Takte" sang, habe der Vortragende gestutzt. Für die Studentin, damals mit Selbstzweifeln geschlagen, ein Schicksalsmoment. Als sich "der Mathias umdrehte, hab ich gewusst: Der nimmt mich komplett ernst. Ich hab mich gehört gefühlt." Rüegg hatte dann nicht nur die Idee für das Schubert-Album. Er stattete seinen Schützling auch mit dem Künstlernachnamen Pale aus. "Julia Pallanch", stichelt er beim Interview, "kann man ja nicht aussprechen". Wie auch immer: Pales erste CD verzückte internationale Kritiker.

Mit "My Poet’s Love" (Universal) legt das Duo nun nach. Diesmal setzt es eine lose Reihe von Gedichten aus der Feder von Heine und Rilke; vertont hat sie Rüegg im Alleingang. Wie auf "Gone Too Far" hat Pale die Texte ins Englische übertragen. Warum eigentlich? "Es bietet mir mehr Freiraum - wohl auch, weil es nicht meine Muttersprache ist". Natürlich gebe es schon Übersetzungen; die wären aber vor allem auf den Inhalt konzentriert, während es Pale zumindest ebenso um Rhythmus gehe.

Der ist auch für Rüegg zentral, nicht nur in textlicher Hinsicht. Es ist auf der CD nicht zu überhören: Synkopen, Sequenzen und Rhythmuswechsel weisen mitunter sehr nachdrücklich auf das intelligente Design dieser Musik hin. Weil Pales Stimme aber erneut charmiert und die Melodiebögen weit geschwungen sind, ist für Klangsinnlichkeit gesorgt. Unterstützt von Kontrabass, Schlagzeug, Klavier und Bläser, ist mit "My Poet’s Love" abermals ein Stück Kunstliedjazzpop gelungen.

Brustbild von Google entfernt


Und wie steht’s mit Auftritten? Das neue Opus hat man soeben live im Quintett vorgestellt; die "Winterreise" erklingt am Samstag zum 30. Mal auf einer Bühne. "Für den Anfang ganz gut", sagt Rüegg, wobei: Es sei halt schwer heute. "Es gibt viel mehr Künstler, weniger Geld, weniger Veranstalter." Überhaupt: In Zeiten des Mainstreampop "werden die Ohren ausgeschaltet. Es ist keine gute Zeit für wirkliche Talente, sondern für das Mittelmaß." Ein Pessimist will Rüegg aber nicht sein: "Ich finde es zum Beispiel unglaublich, welchen Entwicklungsstand Medizin und Technik erreicht haben. Dass die Kunst im kreativen Bereich stagniert, ist eine andere Geschichte." Sieht Pale die Welt, ähem: genauso positiv wie Rüegg? Oder debattiert sie mit ihm ab und zu einmal darüber? Diplomatische Antwort: "Wir sind auf eine gewisse Art Gegenpole, das macht die Arbeit sehr energiegeladen."

Uneinig war man jedenfalls, was die CD-lllustration betrifft. Letztlich ist auf der Rückseite ein - im doppelten Sinn - Brustbild von Pale gelandet. Neuralgische Punkte sind verdeckt, die Namen der zwei Dichter prangen auf nackter Haut. Pale: "Ich wollte das einfach, 2014 war mein Heine- und Rilkejahr." Rüegg schmunzelt zumindest jetzt: Google habe das Bild sperren lassen, gleichzeitig mit einem von Marilyn Manson. "Das ist kein Joke!"