Beißender Schwefelgeruch, Qualm und giftige Dämpfe vermischen sich mit frischer Meeresluft. Männer, Frauen und Kinder schleppen schwere, mit Pyritgestein beladene Körbe ans Ufer, rühren in tiefen Kesseln mit Stäben in einer Brühe: Heute ist es nur schwer vorstellbar, dass an dem schönen Strand von Whitstable nahe Canterbury im englischen Kent einst ein schmutziger Industriestandort gelegen war. Denn dort, wo heute im Frühling und Sommer sich die Menschen vor den bunten kleinen Strandhäuschen am maritimen Leben erfreuen und weiter oben auf dem Hügel im Teegarten des Schlösschens bei Sonnenschein Tee und Kuchen genossen wird, dort entstand vor mehr als 500 Jahren ein Vorbote der Industriellen Revolution. Die chemische Erzeugung von Eisensulfat.

Folgt man neuen historischen Forschungen, so begann die Industrielle Revolution nicht in den Kohlebergwerken Nordenglands, sondern bereits im 16. Jahrhundert an der Küste von Kent mit der Erzeugung dieses Eisensulfats. Es wurde zum Einfärben von Textilien benutzt, zum Gerben von Leder, zur Herstellung von Tinte, zum Imprägnieren von Schiffen und als Bestandteil von Schießpulver. Seine Herstellung war kapitalintensiv, seine Gewinnung ein langwieriger Prozess: an die vier Jahre dauerte es damals, die Chemikalie herzustellen. Allerdings war es ein höchst profitables Geschäft. Die ersten Aufzeichnungen dazu gehen zurück auf den Unternehmer Cornelous Stephenson, der 1565 das Patent zur Erzeugung in Whitstable bekam. Rund um 1588 siedelten die ersten Abbaustätten entlang der Küste an, da im Meer große Mengen an Pyriten und sonstige für die Produktion wichtige Bestandteile, vorhanden waren. 225 Tonnen Copperas, so der englische Name, wurden allein im Jahr 1656 aus dem Hafen der Stadt geschifft, der Höhepunkt der Erzeugung von Eisensulfat war um 1763. Doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts war es dann vorbei damit, nachdem unter anderem schwere Stürme an der Küste die Arbeitsstätten zerstört hatten.
Heute ist von der frühen Industrialisierung in Whitstable nichts mehr zu sehen, sie ist so gut wie vergessen. Bekannt ist die Küstenstadt aber weiterhin durch seine Ressourcen im Wasser. Und damit sind nicht die ersten Tauchhelme mit externer Luftversorgung gemeint, die Anfang des 19. Jahrhunderts dort entwickelt und getestet wurden, sondern die Meereslebewesen. Fisch, Austern und andere Schalentiere sind bis heute ein wesentlicher Industriezweig in der rund 30.000 Einwohner zählenden Stadt. 1850, in der Blütezeit der Austernzucht vor Whitstable, gab es dort rund 80 Boote, die mehr als 50 Millionen Austern im Jahr aus dem Meer zogen. Vor allem die seichten Gewässer und das Brackwasser der Themsemündung bieten auch heute noch ein fruchtbares Territorium für die Fischereiindustrie.
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Begegnen kann man diesen Meerestieren in Whitstable so gut wie überall. Sei es durch die vielen leeren Austernschalen , die gesammelt und dann wieder ins Meer zurück geworden werden, oder durch die vielen kleinen oder größeren Läden, welche frische Austern feilbieten. Auch durchzieht ein konstanter, dezenter Essiggeruch das kleine Zentrum der Stadt, ein Hinweis auf die Fish and Chips- Läden. Für den größeren Geldbeutel gibt es natürlich auch Fisch und Austern in Restaurants.

Das Meer trieb seit dem 16. Jahrhundert den Handel voran. Whitstables geschützter Ankerplatz diente lange Zeit als Hafen für Canterbury. Er sorgte dafür, dass die Stadt seither stetig wuchs. 200 Jahre lang waren die Wägen auf der holprigen Straße zwischen Küste und Stadt dahin gezockelt. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts das berühmte Brüderpaar Stephenson engagiert wurde, um einen Plan für eine für die hügelige Gegend angemessene dampfgetriebene Eisenbahn zu entwerfen.

Ab 1830 gab es vom Hafen in Whitstable eine direkte Schienenverbindung in das rund elf Kilometer entfernte Canterbury, nicht nur für Güter, sondern auch für Passagiere: Aus Whitstable nämlich fuhr der erste Zug der Welt ab, der auch Bahntickets für die Passagiere aushändigte und einen Fahrplan hatte. Bis 1952 dampfte die einspurige "Crab & Winkle" genannte Linie durch die Felder und Waldlandschaften, dann wurde die Linie stillgelegt. Doch gefahren wird dort nach wie vor: So führt auf deren alten Bahntrasse ein beliebter Radwanderweg von der Küstenstadt Margate über Whitstable und Canterbury bis nach London.
Mit dem Ende der Eisenbahnlinie war es auch fast um den Hafen geschehen, die Handelsware blieb beinahe auf der Strecke, hätte nach einer Abstimmung unter den Einwohnern die Stadtverwaltung nicht eingegriffen und den Hafen gekauft. Er wurde modernisiert und wird nun von einer eigenen Behörde, das von der Stadtverwaltung in Canterbury ernannt wird, verwaltet.

Der betriebsame Hafen trennt den Strand in zwei Teile. Fischerboote liegen vor Anker und große Schiffe laden Baumaterialien und Holz ab, es werden Fisch und Schalentiere gereinigt, gekocht und verkauft. Geteerte Speicher der Fischer mischen sich dort unter die pittoresken, schindelgedeckte Häuser. Dazu kann man frische Meeresfrüchte genießen, in der Sonne, so sie scheint, sitzen, das rege Treiben im Hafen beobachten und den Klängen harter Arbeit zuhören: Baggern, Hämmern, Motorengeräusche. Vom Hafenviertel hat man außerdem einen schönen Blick auf die langgestreckte Bucht, die gelegentlich in bezaubernden Sonnenuntergängen erglüht. Und auch das Meer spielt viele Farben, von braun bis blau und grün weiter am Horizont, je nach Wind und Wetter.

Parallel zur See liegt die geschäftige Harbour Street mit ihrem viktorianischen Häusern und den kleinen Geschäften. Immer wieder kreuzt man auf ihr die vielen engen Gassen, die zur Küste führen, und die einst den Schmugglern als Flugweg aus der Stadt dienten. Sie brachten Brandy oder Tabak an Land und galten als Spezialisten darin, während der napoleonischen Kriege französische Inhaftierte aus den wenige Kilometer entfernten Gefängnissen zu befreien.
Lange Zeit galt Whitstable bloß als ein verschlafenes, verträumtes Städtchen an der Küste in Kent. Heute allerdings – und das zum Missmut vieler Bewohner – ist es aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Ab Mai könne man sich am Strand fast nicht mehr bewegen, klagt ein Einwohner. Vor allem die DFL, die Down from London, wie die Gäste aus der Metropole abgekürzt werden – haben es wachgeküsst und beleben bis September Strand und Stadt. Zum einen haben viele Londoner einen Zweitwohnsitz dort oder sich bunte Strandhäuschen gekauft, zum anderen fahren vor allem junge Leute für einen aufs Land (und dort dann mitunter auch mit Bier ins seichte Meer) - für Party und Spaß zum Wochenende. In nur 90 Minuten ist man mit dem Zug von London Victoria in Whitstable, nach einer pittoresken Fahrt vorbei an den vielen Apfel- und Birnenbäumen für Most, an Schafherden und Rapsfeldern.

Verantwortlich für den Boom sind aber nicht nur die Gentrifizierer, denn auch hier kamen nach den Künstlern die Geschäftsleute und Immobilienmakler, sondern auch die vielen Festivals. Einmal im Jahr feiert man Bier und Austern und alle zwei Jahre findet dort die Whitstable Kunst-Biennale statt.
Doch während des Rests des Jahres ist es ruhig in Whitstable, was wohl auch daran liegt, dass es keinen Vergnügungspier gibt, wie man ihn etwa von Brighton oder Blackpool kennt. Diese Monate sind sicherlich auch die beste Zeit, um Ruhe zu finden und Fauna und Flora zu genießen: Duncan Down im Landesinneren mit Blick auf die Stadt oder die nahe gelegenen Seasalter Marches zum Beispiel sind vor allem für Zugvögel beliebte Brutplätze. Aber auch seltene Pflanzen wachsen in Whistable: Auf den Tankerton Slopes über den einstigen Copperas-Anlagen ist der geschützte Echte Haarstrang (Hog Fennel) en masse vorhanden. Die mit Karottengewächsen eng verwandte Pflanze wird bis zu zwei Meter hoch und ist der einzige Lebensraum der seltenen Haarstrangwurzeleule, ein Nachtfalter, der völlig abhängig von dieser Pflanze ist: So ernähren sich während des Frühlings und frühen Sommers die Raupen ausschließlich von seinen Blättern und Stängeln. Ab Mitte Juli bis August bohren sie sich dann in die Wurzeln einer Pflanze, um zu fressen. Doch jede Pflanze hat nur eine Raupe, so kann sie überleben.
Auf den Tankerton Slopes ist auch ein kleiner Hinweis zu finden, dass sich dort einmal ein Vorläufer der chemischen Industrie befand. Ein kleines, vergilbtes Schild unweit des Schlosses weist darauf hin. Von den Menschen, die dort schufteten, weiß man allerdings so gut wie nichts. Es waren Arme aus Whitstable und die Arbeit war gefährlich.