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Anklage im Namen der EU

Von Martyna Czarnowska

Politik

Die Europäische Staatsanwaltschaft soll gegen Betrug und Korruption vorgehen. Doch noch mangelt es an Personal; auch das Budget könnte üppiger sein. Immerhin entgehen den EU-Staaten durch Steuerbetrug Milliarden Euro an Einnahmen.


Sie stellen sich jetzt schon auf viel Arbeit ein. Steuerbetrug, Geldwäsche, Bestechlichkeit, Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung - mit diesen Straftaten sollen sich die europäischen Staatsanwälte befassen, wenn sie heuer ihre operative Tätigkeit aufnehmen. "In der Stunde Null kommt ein Tsunami an Fällen auf uns zu", sagt Ingrid Maschl-Clausen. Die Juristin, die zuletzt bei der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität in Wien tätig war, wechselte vor wenigen Monaten in die neue Europäische Staatsanwaltschaft, die von Laura Kövesi geleitet wird. Mit ihren Kollegen in der Zentrale in Luxemburg, aber auch in den einzelnen EU-Ländern soll sie sich mit Ermittlungen und der Strafverfolgung von Fällen befassen, die sich gegen die finanziellen Interessen der EU richten.

Das kann etwa sein, wenn der Bürgermeister einer Gemeinde EU-Förderungen für den Bau einer Straße beantragt und erhält, diese aber nie bauen lässt. Oder wenn Unternehmen Karussellbetrug betreiben, indem sie bei grenzüberschreitenden Geschäften die Umsatzsteuer umschiffen. Den Budgets der EU-Staaten kann damit viel Geld entgehen.

Nach EU-Schätzungen lagen die Kosten, die 2017 durch Betrugsfälle beim EU-Haushalt verursacht wurden, bei 500 Millionen Euro. Es gibt auch weit höhere Annahmen: Laut einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel könnten der Union durch Mehrwertsteuerbetrug an die 30 Milliarden Euro jährlich entgehen - und im pessimistischsten Szenario sogar 64 Milliarden Euro.

Fünf Länder nicht beteiligt

Wenn solche und ähnliche Betrugsfälle einen Schaden von mindestens zehn Millionen Euro verursachen, soll sich künftig die Europäische Staatsanwaltschaft einschalten. Bis dahin wird es ein langer Weg der Entstehung für sie gewesen sein, auf dem auch die Frage aufgeworfen wurde, wozu eine weitere supranationale Behörde überhaupt notwendig ist. Kövesi beantwortet sie unter anderem damit, dass es nun neue Möglichkeiten der länderübergreifenden Zusammenarbeit gibt - einer Zusammenarbeit, die umgekehrt Kriminelle auf ihre Art schon lange nutzen.

Zwar ist mit dem Schutz der finanziellen Interessen der EU auch die Antibetrugsbehörde Olaf betraut. Doch die hat sich eher als zahnlos erwiesen. Sie darf nämlich keine Ermittlungen an sich ziehen, sondern muss Verdachtsfälle an die nationalen Behörden überweisen. Diese verfolgen aber keineswegs alle Angelegenheiten weiter.

Dass sich die Mitgliedsländer ihre Kompetenzen bei Ermittlungen nicht schmälern lassen wollen, mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es Jahre gedauert hat, die Europäische Staatsanwaltschaft zu etablieren. Gerungen wurde auch um das Ausmaß der Zuständigkeiten der künftigen Behörde bis hin zur Form der Bestellung deren Mitglieder.

Im Oktober 2017 beschlossen die Justizminister der Union schließlich den Aufbau der EU-Staatsanwaltschaft. Doch stimmten nicht alle zu. Bis heute beteiligen sich fünf Länder nicht an dem Projekt: Neben Polen und Ungarn sind das Schweden, Dänemark und Irland.

Die Ernennung der Chefanklägerin hat sich ebenfalls um Monate verzögert. Ausgerechnet Kövesis Heimatland Rumänien hatte den Prozess blockiert. Die damalige sozialdemokratische Regierung wollte den Posten nicht der ihr unliebsamen Juristin überlassen. Gegen die frühere Leiterin der nationalen Anti-Korruptionsbehörde waren in Rumänien sogar Ermittlungen wegen möglicher Korruption, Amtsmissbrauch sowie Falschaussage eingeleitet worden. Dennoch einigten sich die Mitgliedstaaten sowie das EU-Parlament im September 2019 auf Kövesi als oberste EU-Staatsanwältin. Gut ein Jahr später sollte die Behörde ihre Arbeit aufnehmen - war der Plan damals.

Zwei Stellen ausgeschrieben

Das ist allerdings nur zu einem Teil gelungen. Zwar sind Kövesi und ihre Ermittler aus 22 EU-Ländern, die gemeinsam das Kollegium der Europäischen Staatsanwaltschaft bilden, bereits in Luxemburg tätig. Doch ihre operative Arbeit kann die Behörde noch nicht beginnen. Denn noch fehlen die Ermittler in den jeweiligen Staaten.

Erst vier Länder haben bis Dezember ihre Kandidatenlisten nach Luxemburg geschickt: Deutschland, die Niederlande, die Slowakei und Estland. Das Kollegium hat damit 18 sogenannte delegierte Staatsanwälte bestätigt. Angepeilt werden aber 140 solcher Posten.

In Österreich hat das Justizministerium Mitte Dezember die vorgesehenen zwei Stellen ausgeschrieben; bis Ende Jänner können sich Interessenten melden. Als voraussichtlicher Beginn der fünfjährigen Funktionsperiode wird Anfang April angegeben. Der von EU-Justizkommissar Didier Reynders als Wunschdatum für den Start der EU-Staatsanwaltschaft genannte März-Termin dürfte also sehr wackelig sein. Was keineswegs nur an Österreich liegen dürfte.

Doch mangelt es derzeit nicht nur an Personal. Auch die finanzielle Ausstattung für die Behörde könnte üppiger sein, wenn es nach Kövesi ginge. Ein Budget in Höhe von 55,5 Millionen Euro hätte sie sich für das kommende Jahr gewünscht; der ursprüngliche Vorschlag der EU-Kommission waren knapp 38 Millionen Euro. Nun sollen es fast 45 Millionen Euro werden.

Was noch mit der Kommission verhandelt wird, ist, wofür die zusätzlichen Mittel verwendet werden dürfen. Die EU-Staatsanwaltschaft würde damit gerne weitere Mitarbeiter bezahlen: Finanz- und Rechtsexperten, Fallanalytiker, Verwaltungspersonal. Immerhin gilt es, Untersuchungen in 22 Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen zu führen.

"Tsunami an Fällen"

Wenn der Aufbau abgeschlossen ist, rollt der erwähnte Tsunami an. Zu neuen Ermittlungen kommen nämlich auch schon laufende dazu, die von den Staaten übernommen werden. Nach Schätzungen aus Luxemburg werden es rund 3.000 Fälle jährlich sein, aus manchen Ländern - wie Italien und Rumänien - mehr, aus manchen weniger. Ermittlungen auf nationaler Ebene führen, die Beschlagnahme von Vermögenswerten veranlassen, Haftbefehle gegen Verantwortliche beantragen und Anklage erheben - was die Arbeit eines Staatsanwalts ausmacht, ist auch für einen delegierten europäischen Staatsanwalt gültig. Bloß: Dieser handelt im Auftrag der EU und wird auch von ihr bezahlt.

Wie die nationale und die europäische Ebene ineinandergreifen, erklärt Staatsanwältin Maschl-Clausen im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Würde der Bürgermeister, der fürs Nicht-Bauen einer Straße EU-Geld kassiert, einer österreichischen Gemeinde vorstehen, würde der delegierte europäische Staatsanwalt, der ja in seiner Heimat bleibt, dort die Ermittlungen führen. Er schlägt danach vor, entweder Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen. Diesen Vorschlag schickt er nach Luxemburg, wo eine Kammer der EU-Staatsanwaltschaft darüber entscheidet. Das Gremium besteht aus drei Mitgliedern plus in diesem Fall Maschl-Clausen als Expertin für die österreichischen Vorschriften. Wird eine Anklageerhebung beschlossen, erfolgt diese wieder vor einem nationalen Gericht, und dort vertritt auch der delegierte Staatsanwalt die Anklage.

Die Fallarbeit ist es auch, die Maschl-Clausen und ihre Kollegen am meisten an dem Job interessiert. "Ginge es nach uns, hätten wir schon gestern angefangen", erzählt sie. Dass sich die europäischen Staatsanwälte aber noch ein paar Monate gedulden werden müssen, zeichnet sich jetzt schon ab.