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Die Ukraine setzt alle Hoffnungen auf die IT-Entrepreneure

Von Thomas Seifert aus Lemberg

Politik
Blick hinter die Kulissen beim größten IT-Outsourcing-Unternehmen der Ukraine, Softserve.
© Thomas Seifert

Lemberg ist einer der wichtigsten Standorte für die boomende Software-Industrie der Ukraine. Längst haben Unternehmen in den USA und der Europäischen Union das Potenzial der IT-Talente erkannt und investieren in die Branche.


Lemberg. Taras Kytsmey ist in Lemberg so etwas wie Bill Gates und Mark Zuckerberg in einem. Er ist Mitbegründer von Softserve, einem der erfolgreichsten Outsourcing-Unternehmen der Ukraine mit mehr als 6500 Mitarbeitern weltweit. Die Firma liegt im Südwesten der 730.000-Einwohner-Stadt, ein dunkler, moderner Glasbau, innen moderne Büroarchitektur irgendwo zwischen steril und hipster. Helle Räume, minimalistische Büromöbel, viel Glas, dazwischen poppige Farben, originelle Sitzmöbel und bunte Teppiche. Solche Büros gibt es im Silicon Valley von Menlo Park, Mountain View bis San José, aber auch von Hamburg bis München und eben von Wien bis Lemberg.

Eine Stakkato-Personenbeschreibung für Kytsmey liest sich so: männlich, 52 Jahre, Schnauzbart, Halbglatze, Softwareingenieur und Businessman, mit Österreich verbindet ihn die Liebe zum Skifahren. Etwas ausführlicher: Seine Doktorarbeit hat Kytsmey an der Lemberger Ivan Franko Nationaluniversität über Fuzzy Datenbanksysteme verfasst, ein Thema, das gar nicht so leicht zu erklären ist. Ein Versuch: Eine Fuzzy Datenbank ist eine, die in der Lage ist, ungewisse oder unvollständige Information zu verarbeiten, und zwar mithilfe von Fuzzy Logic - unscharfer Logik. In so einer Datenbank findet man auch etwas, wenn man gar nicht ganz exakt, sondern nur ungefähr weiß, wonach man sucht.

Taras Kytsmey, einer der Mitbegründer von SoftServe.
© Thomas Seifert

Computernerd Taras Kytsmey hat vor der Firmengründung von Softserve an der Polytechnischen Universität in Lemberg gelehrt. 1993 war er Mitbegründer von Softserve. Das Unternehmen wurde zum Nukleus der IT-Industrie in Lemberg, nicht wenige ehemalige Mitarbeiter wurden später selbst zu Entrepreneuren, die eigene Softwareunternehmen gegründet haben.

Spezialisiert auf Outsourcing

Die Lemberger IT-Szene ist vor allem auf Outsourcing spezialisiert. "Die Stadt ist reich an IT-Talenten, aber nicht ganz so reich an IT-Unternehmern", sagt Kytsmey. Daher produzieren die Firmen der Stadt eher Software-Rohmaterial und nicht Fertigprodukte. Softwareprodukte würden von denen entwickelt, die den Markt gut kennen - und diese Märkte liegen eben vorwiegend in den USA und in der Europäischen Union. "Beim Outsourcing-Business geht es darum, sowohl nahe an den Kunden als auch an den Entwicklern zu sein", sagt Kytsmey. Daher hat Softserve Entwicklungszentren in Lemberg, Kiew, Charkow und Dnipropetrowsk. "Nach dem Ausbruch des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine haben wir realisiert, dass wir stärker diversifizieren müssen - allein schon, um diesem politischen Risiko entgegenzutreten." Also hat Softserve weitere Zentren in Sofia in Bulgarien und in Wroclaw, Polen eröffnet, die vor allem für die Branchen Gesundheitswesen, Handel, Medien und Fintec - also digitale Finanzdienstleister - Software entwickeln.

Das Businessmodell der Softwareindustrie in der Ukraine ist einfach: Ein niedriges Gehalt in Lemberg ist nicht viel mehr als 250 Euro, ein Softwareingenieur verdient in der Stadt aber im Durchschnitt 1736 US-Dollar (1512 Euro), Top-Programmierer verdienen bis zu 5500 US-Dollar (4791 Euro). In Österreich, Deutschland oder den USA liegen die Gehälter in der Branche weit über diesem Wert, ein Programmierer in Lemberg, der 1512 Euro verdient, hat wiederum mit diesem Salär ein komfortables Leben in Lemberg. Die IT-Industrie wächst mit rund 20 Prozent jährlich, und eine Informatik-Ausbildung bietet gut ausgebildeten jungen Leuten bessere Perspektiven als ein Medizin- oder Betriebswirtschaftsstudium.

"Computerwissenschaft zieht die besten Leute an", erklärt Kytsmey. Dennoch habe die Branche in der Ukraine damit zu kämpfen, dass die Nachfrage nach qualifiziertem Personal nicht gedeckt werden kann. Dementsprechend versuchen die Unternehmen, ihre Mitarbeiter mit Fitnessräumen und Weiterbildungsangeboten bei Laune zu halten. Kytsmey berichtet, dass die Mitarbeiter in der Ukraine seiner Erfahrung nach "hungriger, motivierter und erfolgsorientierter" sind als ihre Kollegen weiter westlich. Gleichzeitig biete der Standort Lemberg den Vorteil, dass die Mentalität jener in der EU sehr ähnlich sei. "Ein Freund von mir sagte einmal zu mir: Leute, ihr Lemberger scheint mir wie Österreicher, die Ukrainisch sprechen. Darauf sage ich: Kein Wunder, die Stadt war Teil der Habsburgermonarchie, Lemberg war eine multikulturelle Stadt, mit jüdischen, armenischen, russischen, polnischen und ukrainischen Bewohnern. Wenn ich nach Österreich komme, dann fühlt sich das überhaupt nicht fremd, sondern sehr bekannt an." Woran es in der Ukraine noch ein wenig fehle, sei globales Denken: "Um den Weltmarkt zu verstehen, muss man in die Welt hinaus. Aus diesem Grund war die Reisefreiheit für Ukraine für die Länder der EU wichtig. Die jungen Leute in der Ukraine denken heute sehr viel globaler, als meine Generation das in meiner Jugend getan hat."

Covering, Journalistin, Model

Zoriana Grys, Web-User-Interface- Entwicklerin aus Lemberg.
© Thomas Seifert

Zoriana Grys, 25 Jahre, ist eine Vertreterin dieser jungen Generation. Sie arbeitet als freiberufliche Programmiererin - auf ihren Social-Media-Profilen ist zu lesen, dass sie daneben auch noch Journalistin und Model ist. Man trifft sie regelmäßig im Co-Working-Space "Communa", einem Hipster-Paradies mitten in der Altstadt, das wie gemacht für Menschen wie Zoriana ist. Bei "Communa" kann man einen Schreibtisch für ein paar Stunden mieten, es gibt superschnelles WLAN, Gemeinschaftsräume und eine Bar mit Kaffee, Tee und Softdrinks. Grys ist "Front-End-Developerin", ihre Verantwortung das Aussehen und die Funktionalität der Website, die die User zu sehen bekommen. Ihre Arbeit besteht darin, mit Grafikern und Programmierern Websites zu designen. Seit zwei Jahren macht sie das schon. Davor hat Zoriana an der staatlichen Ivan Franko Universität Journalismus studiert und danach für Zeitungen, Radio und fürs Fernsehen gearbeitet.

Während ihrer Studienzeit arbeitete Zoriana als Model - Werbekampagnen, Modeschauen, Lookbooks für Modelabels. Warum sie ins Computerfach gewechselt ist? "Ich war mit mir selbst mehr und mehr unzufrieden. Ich wollte etwas Neues ausprobieren und so bin ich im Computerfach gelandet." Zuerst hat sie es autodidaktisch mit Online-Kursen auf YouTube versucht, danach hat sie einen IT-Kurs an der "Lviv IT School - LITS" besucht. HTML, JavaScript, PHP, Wordpress - diese Programmiersprachen sind der Schlüssel in die Welt der Coder. Jetzt arbeitet Zoriana mit acht weiteren Mitgliedern ihres Teams in einer kleinen IT-Firma mit rund 30 Mitarbeitern.

Ursprünglich stammt die Programmiererin aus Borschtschiw, einer Kleinstadt mit rund 12.000 Einwohnern, die rund dreieinhalb Stunden südöstlich von Lemberg liegt - nicht weit von Czernowitz entfernt. "Lemberg hat eine angenehme Atmosphäre, ist weniger hektisch als Kiew - und dennoch effizient. Die Zukunftschancen hier sind gut." Mit ihrer Arbeit ist sie mehr als zufrieden: "Ich verdiene gutes Geld, bekomme eine Gratismitgliedschaft im Fitnessklub." Verschmitzt fügt sie hinzu: "Und im Büro steht immer eine Schale von Keksen."

Sachertorte, Stadtverwaltung

Teambesprechung beim Software-Unternehmen Softserve.
© Thomas Seifert

Für die Stadtverwaltung ist die IT-Industrie eines der wichtigsten Standbeine der örtlichen Wirtschaft. 280 bis 300 Millionen US-Dollar werden in diesem Bereich umgesetzt, das sind rund 14,4 Prozent des Bruttoregionalprodukts von Lemberg (im Jahr 2010 waren es noch rund 100 Millionen Dollar). In der Stadtverwaltung gibt es ein eigenes Büro, dessen einziger Zweck es ist, für ein gutes Umfeld und gutes Klima für die IT-Branche in der Stadt zu sorgen. Marta Romaniak ist Chefin dieses IT-Büros. Wenn sie Zeit hat, geht sie vor ihrem Arbeitsantritt im Rathaus ins "Svit Kavy" mitten im Zentrum. Ein kleines, verträumtes Kaffeehaus, das Rathausbediensteten als verlängertes Wohnzimmer dient. Eine der Spezialitäten im "Svit Kavy" ist Sachertorte, man ist hier stolz auf Wiener Flair.

Romaniak bestellt eine Tasse Kaffee und rattert die IT-Wirtschaftskenndaten Lembergs herunter: 300 IT-Unternehmen beherbergt die Stadt, 20.000 Menschen arbeiten in dieser Branche. Google, Microsoft, Lufthansa - es gibt kaum eine bekannte Marke, die nicht Software-Jobs nach Lemberg ausgelagert hat, berichtet sie. 50 Prozent der Auftraggeber der Outsourcing-Unternehmen sitzen in den USA, 35 Prozent in der EU, der Schweiz und Norwegen, wobei neben Unternehmen aus Irland, Großbritannien, Deutschland, Österreich und den Niederlanden Firmen aus skandinavischen Ländern eine Rolle spielen. Ukrainische Kunden machen übrigens nur zwei Prozent des Umsatzes aus. Romaniak breitet die Ergebnisse einer Studie, die die Stadt in Auftrag gegeben hat, aus: 88,4 Prozent der IT-Unternehmen sind im Outsourcing-Bereich tätig, 3,2 Prozent sind sogenannte Outstaffing-Unternehmen (in diesem Fall arbeiten die Programmierer und Software-Experten als Leiharbeiter direkt für ein ausländisches Unternehmen), 8,4 Prozent arbeiten an IT-Produkten.

Mangelnde Rechtssicherheit

Alles lief prima, sagt Romaniak, das Wachstum in der IT-Branche sei hervorragend gewesen. Und dann kam der Krieg: "Da wussten wir nicht, wie uns geschah. Sollten wir jetzt einfach nur weinen oder was?" Mittlerweile hat sich die Lage im Land normalisiert, außerhalb der Konfliktzone im Osten des Landes ist kaum etwas vom Krieg mit den Separatisten zu spüren. Die Stadt setzt auf ein "Silicon Triangle", ein Dreieck aus Stadtverwaltung, Universitäten und Unternehmen. Die Polytechnische Universität entwickelte zuletzt die Kurscurricula der IT-Studienlehrgänge in enger Abstimmung mit den IT-Unternehmen, die Studenten werden ermuntert, bereits während ihres Studiums für IT-Unternehmen zu arbeiten. Gleichzeitig, so Romaniak, investiere die Stadt in IT-Dienste. Smart-City, E-Government und Open Data sollen für die Stadt mehr als nur Schlagworte sein, betont Romaniak. Immerhin seien diese digitalen Dienste ein Weg, die Korruption wirksam zu bekämpfen und die Verwaltung effizienter zu machen. Der Bürgermeister ist, so sagt Romaniak, einer, der davon überzeugt ist, dass der IT-Bereich für die Stadt in Zukunft noch wichtiger als bisher sein würde: "Wenn jemand aus der Branche ein Anliegen hat, dann rufen die Leute ihn einfach an oder schreiben ihm auf Facebook oder WhatsApp eine Nachricht. Er kümmert sich dann darum", meint sie.

"Was wir noch brauchen: Eine internationale Schule, da immer mehr ausländische Mitarbeiter von Kunden unserer IT-Firmen nach Lemberg kommen. Und wir brauchen eine bessere Verkehrsinfrastruktur." 27 Prozent der IT-Spezialisten nehmen nach einer Umfrage täglich den Bus, 61 Prozent der Befragten geben an, sie würden nie mit dem Fahrrad fahren (6,3 Prozent tun das hingegen täglich). Der nächste Schritt in der Entwicklung der IT-Branche der Stadt ist, vom Outsourcing zu mehr eigenen Software-Produkten zu kommen. "Das größte Hindernis auf diesem Weg ist eine mangelnde Rechtssicherheit, wenn es um geistiges Eigentum geht. Unsere Patentgerichte arbeiten nicht effizient. Ich war selbst Anwältin in diesem Bereich und hatte einmal einen Fall, in dem es um die Verletzung geistigen Eigentums ging - da hat der Richter nicht wirklich verstanden, worum es ging."

Tanya Kozhokar ist Projektmanagerin in der Planungsabteilung der Stadt, sie ist eine Kollegin von Romaniak und berichtet, dass die Stadt eine Wachstumsstrategie verfolgt, die neben der IT-Branche auch auf Tourismus setzt - die Stadt begrüßte zuletzt rund drei Millionen Touristen jährlich. Denn ein angenehmes Flair in der Stadt würde auch dazu beitragen, Talente aus dem ganzen Land nach Lemberg zu locken. Softwareentwickler schätzen Kultur, Theater, Museen, Konzerte, Nachtleben. Wie eben Touristen auch. So würde der Tourismus die IT-Branche beflügeln - und umgekehrt.

Revoluzzer und Programmierer

© M. Hirsch

Zuletzt wurde von der Stadt ein Campus für IT-Unternehmen abgesegnet und im Rathaus ist man stolz darauf, mit der "IT Arena" einmal jährlich die größte IT-Konferenz der Region (3300 Teilnehmer im Jahr 2018) abzuhalten. Nicht zuletzt sei es mit dieser Konferenz gelungen, Lemberg auch international in den Hirnen als IT-Stadt zu verankern. "Die Gehälter in der IT-Branche in Lemberg sind besser als in Charkow oder Dnipropetrowsk, wir haben einen internationalen Flughafen und bis zur EU-Grenze sind es nur 70 Kilometer."

Markiyan Matsekh ist ein Vertreter dieser neuen Generation von Software-Entwicklern, die sich nicht mehr mit Outsourcing zufriedengeben, sondern eigene Produktideen umsetzen. Matsekh ist in der Entrepreneur-Szene der Stadt bekannt wie ein bunter Hund, es gibt kaum eine IT-Initiative in Lemberg, bei der Matsekh seine Finger nicht im Spiel hat. Auch beim Maidan, bei der sogenannten Revolution der Würde, bei der der pro-russische Präsident Wiktor Janukowitsch aus dem Amt gejagt wurde, war Matsekh dabei. Das Bild ging um die Welt: Matsekh sitzt an einem Piano und spielt vor einer Phalanx von Sonderpolizisten bei minus 15 Grad Celsius Chopin. "Ich konnte meine Finger kaum bewegen, und das war nicht meine beste Darbietung", sagte er später der Zeitung "The Guardian".

Für Matsekh ist dieses Bild wie aus einem vergangenen Jahrhundert, die Uhr scheint in der politisch volatilen Ukraine schneller zu ticken als in Mitteleuropa. Matsekh denkt mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit nach, und die Zukunft liegt in seinem Unternehmen "Senstone". Er ist durch die Schule der Outsourcing-Unternehmen gegangen und hat beschlossen, seine eigene Firma zu gründen. "Das ist zu Beginn ein finanzielles Verlustgeschäft und bedeutet auch einen höheren Grad an wirtschaftlicher Unsicherheit, aber es macht einfach mehr Spaß, die eigenen Ideen zu entwickeln. Bei einem Outsourcing-Unternehmen verdient man vielleicht 3000 Dollar, und als Entrepreneur muss man einige Zeit mit 500 Dollar pro Monat auskommen", sagt Matsekh.

"Land der Möglichkeiten"

Senstone ist nichts anderes als ein kleines, schick designtes Ansteckmikrofon, in das man zu jeder Zeit Notizen diktieren kann. Mithilfe von Spracherkennung und künstlicher Intelligenz können die Sprachnotizen effizient organisiert und verwaltet werden. Das Ding ist ideal für Menschen, die - so wie Matsekh - ständig neue Ideen haben und fürchten, sie würden sie gleich wieder vergessen. 4000.000 Dollar hat Matsekh über die Crowdfunding-Plattform "Kickstarter" gesammelt und ein global operierendes Unternehmen gegründet: Die Hardware lässt er in Shenzhen, China fertigen, die Software wird in der Ukraine programmiert, der Hauptabsatzmarkt ist in den USA und der EU.

"In der Ukraine wissen wir, wie man programmiert. Was wir noch herausfinden müssen, ist, was wir programmieren sollen. Welche Anwendung wird gebraucht, welches Produkt? Ich denke, wir werden immer besser darin werden, zu spüren, wohin der Markt sich bewegt. Die Ukraine ist für IT-Leute derzeit jedenfalls das Land der unbegrenzten Möglichkeiten."