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Schöne neue Geschichte

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Mit viel Pomp begeht Polen den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Doch die Geschichtspolitik spielt schon seit einiger Zeit eine wichtige Rolle - nicht zuletzt beim Umbau des Staates durch die nationalkonservative Regierung.


Warschau. Die Bilder vom Vorjahr sollten vermieden werden. Die Feierlichkeiten zum polnischen Unabhängigkeitstag sollten besonders pompös ausfallen - immerhin handelt es sich um ein rundes Jubiläum. Am Sonntag begeht Polen den hundertsten Jahrestag der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Mit Gedenkfeiern, Konzerten, Kundgebungen. Doch eben die Märsche haben schon im Vorfeld Befürchtungen und Zwistigkeiten ausgelöst.

Denn im Vorjahr überschattete ein Auflauf rechtsextremer Demonstranten die Festivitäten. Tausende Menschen zogen unter ausländerfeindlichen Parolen durch die Warschauer Innenstadt. Die nationalkonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) hat den Marsch zwar nicht organisiert, sich aber nur halbherzig davon distanziert und antisemitische sowie xenophobe Aussagen als eine Tat weniger Provokateure abgetan.

Um eine Wiederholung solcher Ereignisse zu vermeiden, hat Warschaus Bürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz, die der gemäßigt konservativen und mittlerweile oppositionellen Bürgerplattform (PO) angehört, den für Sonntag angesetzten Marsch verboten. Die Entscheidung wurde allerdings von einem Gericht in erster Instanz gekippt - und die Regierung hat prompt beschlossen, einen eigenen Marsch zu organisieren.

Dahinter schwelt ein längerer Zwist über die Deutungshoheit über Geschichte. Die beansprucht PiS für sich. Nach ihrem Wahlsieg vor drei Jahren ist die Partei von Jaroslaw Kaczynski nicht nur daran gegangen, Änderungen im Justiz-, Medien- und Bildungsbereich durchzusetzen. Sie will ebenso das polnische Geschichtsbild umbauen.

"Kampf und Martyrium"

Zu sehen ist dies unter anderem am Institut für nationales Gedenken (IPN), das in einem grauen, wuchtigen Plattenbau im Süden Warschaus untergebracht ist. Gegründet wurde die Einrichtung nach 1989, um die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Kommunisten auf polnischem Boden aufzuklären. Doch kann sie aus PiS-Sicht auch andere Aufgaben übernehmen - für die Geschichtspolitik eben. Die Gelder des Instituts wurden aufgestockt, neue Abteilungen geschaffen.

An der Tür einer von ihnen steht "Büro für das Gedenken an Kampf und Martyrium". Drinnen ist die Wand mit Bildern und Orden übersäht, aber ganz in der Mitte hängt der Adler. Seine weißen Flügel, auf rotem Grund, sind weit gespannt. Am Schreibtisch darunter sitzt Büro-Direktor Adam Siwek und faltet seine Hände. Wenn er sich vorbeugt, wirkt es fast so, als würde er sich unter dem Adler, dem polnischen Wappen, ducken.

Siwek ist ein untersetzter Mann mit hoher Stirn, der lange überlegt, bevor er antwortet. Danach spricht er mit leiser Stimme. So ganz will seine Erscheinung nicht zum patriotischen Pathos seines Arbeitsplatzes passen, zu den Wimpeln, Orden und Wappen rundherum.

Kaum ein anderes Land in Europa hat mehr unter den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelitten als Polen. Zwischen Adolf Hitler und Josef Stalin aufgeteilt, umkämpft, zerrieben. Es sind die "Bloodlands", wie sie der US-Historiker Timothy Snyder in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet hat, in denen während des Zweiten Weltkriegs jeder fünfte Pole eines gewaltsamen Todes gestorben ist.

Wenn Adam Siwek spricht, dann geht es oft um Stolz. "Jahrelang ist die polnische Gesellschaft in dem Geiste erzogen worden, sich als Opfer zu sehen", sagt er. Das soll sich jetzt ändern. Die Polen hätten ein Recht darauf, auf ihre Geschichte stolz zu sein, wie andere Länder auch. Patriotischer und positiver sollte das Geschichtsbild werden und das internationale Bild des Landes korrigieren. Und irgendwann lässt Siwek diesen Satz fallen: "Wir schreiben die polnische Geschichte um."

Neuer Heldenkult

Was das bedeutet, zeigen die Initiativen, die das IPN angestoßen hat. Wie die Entfernung kommunistischer Symbole aus dem öffentlichen Raum. Oder das Holocaust-Gesetz, das die Bezeichnung "polnische Konzentrationslager" - ohne die Formulierung im Gesetzestext zu erwähnen - unter Strafe stellen wollte, weil es eine polnische Mitschuld am Holocaust suggeriere. Oder mit der Initiative zum Kult der sogenannten verstoßenen Soldaten, einer Gruppe polnischer Widerstandskämpfer im und nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich nach dem Rückzug der Nazis aus Polen neu formierte, um fortan gegen die Kommunisten zu kämpfen. Nur einen Steinwurf von Siweks Büro entfernt soll den "Verstoßenen Soldaten" im Gefängnis Mokotow ein Denkmal errichtet werden. Als positive Helden in einer dunklen Zeit sollen sie dargestellt werden.

Es sind aber genau diese neuen Helden, die andere erschaudern lassen. Wie Klementyna Suchanow. Die 44-jährige Autorin, die in einem hippen Innenstadtcafé sitzt, ist eine elegante Frau mit einem Kurzhaarschnitt, die heuer für einen der wichtigsten polnischen Literaturpreise nominiert wurde. Sie sieht nicht aus wie eine Straßenkämpferin. Doch zuletzt ist sie immer wieder auf die Barrikaden gezogen. Gegen Pläne für ein Gesetz, das Abtreibungen ganz verbieten soll. Gegen die Justizreform, die unliebsame Richter zwangspensioniert. Gegen die Mediengesetze. Oder eben auch vor ein paar Monaten, als sie mit weiteren Demonstranten vor das Institut für nationales Gedenken gezogen ist, um gegen den neuen Heldenkult zu protestieren.

Mit der schönen, neuen PiS-Geschichtspolitik kann Suchanow nichts anfangen, erst recht nichts mit dem Heldenkult um die verstoßenen Soldaten. "Einige von ihnen waren vielleicht positive Figuren, andere wiederum waren einfach nur Kriminelle und sogar Faschisten", stellt Suchanow fest. So werde ein Teil der Geschichte idealisiert, um es für eigene Zwecke zu nutzen. Eine These, der Fakten und Forschung einfach untergeordnet werden.

Umstrittenes Andenken

Zurück im IPN-Plattenbau. Faschisten? Alles liberale Propaganda, wird Siwek zum ersten Mal etwas lauter. Die Suche nach dem "Polnisch-Sein" werde in liberalen Kreisen pauschal als "nationalistisch und faschistisch" abgetan, meint er. Dabei wollten die Kommunisten "die Erinnerung an die verstoßenen Soldaten aus dem kollektiven Gedächtnis löschen und diese in die Nähe der Nationalsozialisten rücken". Doch seien diese Kämpfer "die Letzten und Einzigen" gewesen, "die für eine Unabhängigkeit Polens aufgestanden sind", befindet Siwek: "Unser Institut versucht, sie zu rehabilitieren und das Andenken an sie wieder zu beleben."

Mit ihrer Kritik ist Suchanow, die eher eine Linke als eine Liberale ist, aber nicht alleine. Von einer "demagogischen Märtyrergeschichte" schreibt der Historiker Krzysztof Ruchniewicz über die PiS-Geschichtspolitik. Dass die Regierung damit rechten Kräften den Rücken stärkt oder sie zumindest gewähren lässt, ist ein gängiger Vorwurf.

Ringen um Deutungshoheit

Zu den Kritikern der aktuellen Erinnerungspolitik gehört auch Dariusz Stola, Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden (POLIN). Das 2013 eröffnete Haus wurde im Stadtzentrum errichtet, dort, wo früher das jüdische Leben pulsiert hatte und später das Warschauer Getto errichtet wurde. Es ist ein moderner, heller Glasbau; die hellen Sandsteinwände im Inneren lassen an eine Felshöhle denken, die das Gebäude teilt - symbolisch für die Teilung des Roten Meeres bis hin zu den Brüchen der jüdischen Geschichte. Nicht nur architektonisch wirkt das Museum wie ein Gegenentwurf zur grauen Tristesse des IPN, sondern auch in der Einschätzung der Geschichtspolitik.

Besonders kritisch hat sich Direktor Stola zum Holocaust-Gesetz geäußert. "Der Gesetzesentwurf hat erst recht dazu geführt, dass der Ausdruck ,polnische Konzentrationslager‘ tausendmal im Internet verwendet wurde", betont er. Nach einem internationalen Aufschrei wurde das Vorhaben zwar wieder abgeschwächt. Doch hat es auch zu Spannungen mit Israel geführt - was in Polen wiederum im Internet auch antisemitische Hassreden nach sich zog.

Doch warum lässt sich gerade die Geschichte derart instrumentalisieren? "Die Polen sind vor allem an der Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert", glaubt Stola. Was auch gut sei, denn die Museen in Polen sind voll, fast an jeder Straßenecke wird in Warschau mit Denkmälern, Blumen und Kränzen wichtiger Ereignisse der jüngeren Geschichte gedacht. Zugleich lasse sich laut Stola "alter Hass besonders leicht aufheizen".

Doch längst ginge es PiS nicht nur um die Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg, sondern auch um die jüngste Vergangenheit: So wird der Runde Tisch, an dem sich 1989 Vertreter des sozialistischen Regimes und der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc einigten, als fauler Kompromiss geschmäht. Die wirkliche Wende sei erst unter Jaroslaw Kaczynski eingeleitet worden. "Es geht um nichts weniger als eine generelle Revision der polnischen Geschichte", sagt Stola.