
Wien. Sie treffen sich vor einem der Lieblingsrestaurants des Autors Robert Menasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk: dem "Gasthaus zum Sieg". Doch der Koch ist krank, und die drei - Vincent-Immanuel Herr, Martin Speer und Robert Menasse - weichen auf das Lokal "Schöne Perle" aus. Braune Holzstühle, grau-gesprenkelte Fliesen, der Geruch von Schnitzel in der Luft und Bier auf dem Tisch - die Szenerie für die Entstehung einer Idee vor mittlerweile vier Jahren, die 2018 den Sommer von 15.000 Jugendlichen prägen sollte.
Wien war der vorletzte Stop der Interrail-Reise des Aktivistenduos Herr und Speer aus Berlin. Bei besagtem Abendessen mit Menasse erzählten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer dem Buchautor von den Erfahrungen ihrer Reise. Davon, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Jugendlichen von Europa profitiert, nur wenige die Europäische Union (EU) begreifen und entdecken können, und von dem ganz persönlichen Gefühl, nach der Reise Europäer zu sein.
Auf den alten Gleisen des Nordbahnhofes, nicht weit weg von der "Schönen Perle", erzählt Speer der "Wiener Zeitung" in einem Interview, dass dieses Gespräch die Grundlage für die Idee war: "Wieso können nicht alle jungen Europäerinnen und Europäer diese Erfahrung machen?"
Europa auf der Normalspur
Was 2014 mit einem Gedankenspiel begann, wurde im Juni 2018 teilweise Wirklichkeit. Mit dem gratis Interrailticket #DiscoverEU hatten im Sommer 15.000 Jugendliche, darunter 257 aus Österreich, die mit Stichtag 1. Juli 18 Jahre alt waren, die Möglichkeit, Europa zu erkunden. 12 Millionen Euro nahm die EU für die Pilot-Runde des Gratis-Interrailtickets in die Hand. Aber wieso?
Es ginge darum, die europäische Einheit zu stärken, erklärt Speer. Durch das gemeinsame Reisen auf den Schienen der europäischen Spurweite Normalspur, das Knüpfen von Kontakten und das Überwinden von Grenzen könne man Jugendliche für Europa begeistern. Zudem soll eine breite Masse mit der Initiative erreicht werden: "Ich glaube, die EU krankt daran, dass sie vielfach als ein Elitenprojekt wahrgenommen wird. Und daran, dass gerade viele junge Menschen nicht die Möglichkeit haben, die EU selbst zu erfahren, zu sehen, was Europa bedeutet, was Zusammenhalt heißt", erklärt Speer. Tatsächlich kommen bislang viele Möglichkeiten, die die EU bietet, nur wenigen zugute.
Die meisten Jugendlichen der Generation Y, also derjenigen, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden, und der darauf folgenden Generation Z sind mit dieser Reise- und Mobilitätsfreiheit aufgewachsen. Diese Reisefreiheit ist eine der Besonderheiten der EU, und in dieser Form weltweit einzigartig. Zwei Abkommen tragen dazu bei, dass Europäer sich auf dem Kontinent weitestgehend frei bewegen können. Auf der einen Seite regelt das Schengen-Abkommen seit 1995 die Reisefreiheit. Europäern ist es durch dieses Abkommen erlaubt, sich innerhalb der EU weitgehend ohne Grenzkontrollen zu bewegen. Durch den Artikel 45 des Vertrages der Arbeitsweise der Europäischen Union können EuropäerInnen zusätzlich in einem anderen Mitgliedsstaat leben und dort ohne Arbeitserlaubnis einen Job annehmen.