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"Die EU kann zufrieden sein"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Laut dem Brexit-Experten Karel Lannoo haben die 27 EU-Staaten in den Verhandlungen ihre wichtigsten Positionen ohne größere Abstriche durchgebracht.


"Wiener Zeitung":Der Entwurf des Brexit-Trennungsvertrags umfasst fast 600 Seiten. Kann die EU zufrieden mit dem sein, was sie da verhandelt hat?

Karel Lannoo: Ja, das denke ich schon. Denn was im Vertragsentwurf jetzt drinnen steht, ist eine Kombination aus den Forderungen, die die EU-Kommission bereits im März und April erhoben hat, und dem Gegenvorschlag der britischen Regierung. Die EU-Kommission hat sich vor allem auf die Personenfreizügigkeit konzentriert, und da primär auf die Frage, was macht man mit den EU-Bürgern, die schon im Vereinigten Königreich leben. Die britische Regierung hat da im Wesentlichen die Positionen der EU-Kommission akzeptiert. Mit dem Gegenvorschlag aus London kamen dann nur noch einige Punkte im Bereich Waren und Dienstleistungen hinzu. Die EU-Kommission hat allerdings auch schon im April auf gleiche Spielregeln für alle gedrungen. Damit sollte sichergestellt werden, dass Großbritannien trotz des Austritts in vier Breichen, nämlich Soziales, Umwelt, Steuern und staatliche Beihilfen, die gleichen Standards befolgt. Und auch das steht im Vertragsentwurf. Das ist der Grund, warum nun einige Gruppen in Großbritannien das vorliegende Abkommen als Weg ins Vasallentum bezeichnen.

Gibt es noch irgendetwas, was innerhalb der EU-27 schiefgehen kann? Zuletzt gab es ja noch Streit wegen Gibraltar.

In den vergangenen Tagen gab es auch noch Auseinandersetzungen wegen der Fischereirechte, aber ebenso wie die Gibraltar-Frage wird das wohl nicht den gesamten Vertrag torpedieren. Es könnte vielleicht noch Streit über Budget-Fragen geben, möglicherweise sehen ja einige der jüngeren Mitgliedstaaten plötzlich die Möglichkeit, noch mehr verlangen zu können. Wer weiß? Allerdings glaube ich sehr stark, dass jetzt nach zweieinhalb Jahren des Debattierens und Verhandelns alle nun zu einem Ende kommen wollen. Es gibt absolut keinen Appetit auf neue Unsicherheit.

Warum sind die EU-27 in den Verhandlungen so einig geblieben? Immer wieder hat es ja Befürchtungen gegeben, dass Staaten ausscheren könnten, um für sich selbst mehr herausschlagen zu können.

Ich denke, die EU-Kommission hat das sehr geschickt gehandhabt. Denn dass sich die Staaten nicht auseinanderdividieren lassen, war vor zwei Jahren noch alles andere als klar. Unmittelbar nach dem Referendum haben die Briten natürlich Versuche gestartet, ob sie Länder wie Polen, Ungarn und Rumänien nicht von einer anderen Sichtweise überzeugen können. Sie waren damit aber nicht erfolgreich. Denn offensichtlich haben die anderen EU-Länder erkannt, dass der Zusammenhalt einen Wert hat. Das ist eine große Leistung und auch ein Beispiel dafür, dass nicht alles in der EU schlecht läuft. Ungarn, Polen, Tschechien, die sonst sehr stark auf ihre Souveränität pochen, haben zusammen mit den anderen den Binnenmarkt verteidigt und sich gegen zu viele Ausnahme gestellt. Sie haben sich gegen eine EU à la carte ausgesprochen, in der jeder sich das herausverhandelt, wonach ihm gerade ist.

Mitte der Woche haben die EU-Staaten und das Vereinigte Königreich auch ihre gemeinsame Zukunft skizziert. Und dieser Text klingt sehr harmonisch und positiv. Müssen wir uns aber nicht auf beinharte Gespräche einstellen?

Von den vier erwähnten Bereichen sind drei - nämlich die staatlichen Beihilfen, die Arbeits- und Sozialgesetze und die Steuern - sehr sensible Themen für die Briten. So hat die Regierung in London die Körperschaftssteuer in den vergangenen Jahren mehrmals reduziert, um sicherzustellen, dass das Land ein attraktiver Standort für Unternehmen bleibt. Und bei den Arbeits- und Sozialstandards hatte Großbritannien schon einmal eine Ausnahme aus den EU-Verträgen ausverhandelt. Umgekehrt ist die Einschränkung staatlicher Beihilfen ein Kernthema für die EU, während der Rest der Welt sich darum deutlich weniger kümmert. So hat die EU-Kommission Apple ja zu 13 Milliarden Dollar Strafe verdonnert, weil die Steuervorteile des Unternehmens in Irland als versteckte staatliche Beihilfe und Marktverzerrung gewertet worden waren. Und auch das Vereinigte Königreich wird nun angesichts der Abwanderung der Banken versuchen, Unternehmen aus der Finanzindustrie Steuervorteile zu gewähren. Da wird die EU aber sehr schnell sagen, eure Steuergesetzgebung geht zu weit, und mit einem eingeschränkten Marktzugang drohen. Das wird ganz sicher ein harter Kampf.

Die Lösung der irischen Grenzfrage ist ja lediglich in die Zukunft verschoben worden. Könnte dieses Thema die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vergiften?

Man muss sich nur die Dynamik in Bezug auf Schottland anschauen. So werden wohl alle Teil einer Zollunion sein, doch es wird deutlich mehr Flexibilität zwischen Nordirland und Irland geben als zwischen Schottland und Irland. Und die Schotten, die ja schon immer gegen den Brexit waren, werden sagen, wir wollen das nicht. Manche gehen ja bereits davon aus, dass es in zwei oder drei Jahren kein Vereinigtes Königreich mehr geben wird. Und man muss sich nur das Beispiel der Tschechoslowakei vor Augen führen, um zu sehen, dass die Trennung von Ländern durchaus möglich ist.

Eine große britische Zeitung hat vor kurzem getitelt: "Der Brexit hat Großbritannien seinen Platz in der Welt gezeigt." Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

Ja, absolut. Großbritannien ist sogar um sehr viele Plätze abgestiegen. Man muss nur die Zahl der Banken hernehmen, die vor kurzem angekündigt haben, große Teile ihres Geschäfts nach Kontinentaleuropa zu verlagern. Allein die US-Großbank JPMorgan will 450 Milliarden Euro an Assets ins deutsche Frankfurt überführen. Das ist eine enorme Summe. 450 Milliarden Euro, das entspricht der Größe einer großen europäischen Bank.

Karel Lannoo ist Chef der in Brüssel ansässigen Denkfabrik Centre for
European Policy Studies (CEPS). Der Niederländer hat zahlreiche Bücher
zur EU-Politik und zu Finanzmarktthemen publiziert.