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Genosse Corbyn in der Brexit-Schockstarre

Von Siobhán Geets

Politik

Jeremy Corbyn muss schnell handeln, will er einen harten Brexit verhindern. Wieso zögert der Labour-Chef?


London. Jeremy Corbyn hat einen Plan. Der Brexit, so der Labour-Chef in einem Kommentar für den britischen "Guardian", muss nicht hart werden. Es ginge auch anders, als die konservative Premierministerin Theresa May das mit der EU ausgehandelt hat. Fragt man Corbyn, so soll der Handel mit der EU weiterhin "reibungslos" vonstattengehen - noch dazu ohne jegliche Nachteile für das Vereinigte Königreich. "Eine neue, umfassende Zollunion mit der EU, in der die Briten bei künftigen Handelsabkommen mitentscheiden können", das wünscht sich der Chef der größten Oppositionspartei. Tatsächlich klingt sein Plan für den Brexit eher nach einer Wunschliste als nach einer umsetzbaren Strategie.

Hoffnung auf Neuwahlen

Wie er das alles erreichen will, verrät Corbyn nicht. Selbst wenn es Labour gelingen würde, die Regierung zu stürzen und nach Neuwahlen die Macht zu übernehmen - die EU würde die Brexit-Verhandlungen nicht neu aufrollen. Brüssel hat von Anfang an klargemacht: Einen Verbleib im Binnenmarkt gibt es nur bei Erhalt der Reisefreiheit. Und das wiederum wollen die Briten nicht.

Dass kein "besserer Deal" mit der EU zu erzielen ist und der "Guardian"-Artikel purer Fantasie entspringt, da dürften sich die meisten Labour-Abgeordneten einig sein. Ansonsten scheinen sie aber genauso gespalten wie die Tories. Zwar ist eine Mehrheit von ihnen gegen Mays Austrittsabkommen. Doch sind jene Abgeordnete, die ein zweites Referendum zum EU-Austritt fordern, nach wie vor in der Minderheit. Auch, wenn sich immer mehr prominente Labour-Leute dafür aussprechen und die Mehrheit der Mitglieder in Corbyns Graswurzel-Organisation "Momentum" den Vorschlag unterstützen - Parteichef Corbyn ließ sich bislang nicht dazu hinreißen, für eine Volksbefragung zu werben.

Dabei sind die Alternativen zu Mays Deal überschaubar: Neben einem zweiten Referendum könnte das Königreich mit "Norwegen-Plus" die sanfteste aller Brexit-Varianten anstreben. Das Modell sieht einen Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion vor - mit einer Art Notbremse bei der Personenfreizügigkeit. Doch die würde Brüssel dem Königreich wohl kaum gewähren. Zudem gibt es in London keine Mehrheit für "Nordwegen Plus".

Corbyn setzt immer noch darauf, dass Westminster Mays Deal ablehnt - und spekuliert auf Neuwahlen. Doch die Zeit drängt. Mays Abkommen wird wohl erst kommendes Jahr zur Abstimmung gelangen. Und mit dem 29. März tritt das Vereinigte Königreich aus der EU aus, ob mit oder ohne Abkommen. Das Zeitfenster für einen "soft Brexit" schließt sich bald.

Worauf wartet der Labour-Chef also noch? Anscheinend fürchtet er, dass eine Abkehr vom Brexit die Partei Stimmen kosten würde, vor allem in jenen rund 30 Wahlkreisen im Norden des Landes, die damals für den EU-Austritt gestimmt haben. Als Labour-Leute vor den Neuwahlen im Sommer in Arbeitervierteln von Haus zu Haus gingen, beeilten sie sich zu betonen, dass Labour den Brexit liefern würde - sonst hätten ihnen die meisten gleich die Tür vor der Nase zugeknallt.

Aus Angst, Wähler zu verlieren, ist Labour in eine Art Schockstarre verfallen. "Die Partei ist sich einig, aber die Führung geht einen anderen Weg", sagt Mary Kaldor von der London School of Economics and Political Science. Dabei seien 86 Prozent der Parteimitglieder gegen den EU-Austritt. Bei der letzten Parteikonferenz sei ein Kompromiss erzielt worden: Labour wird Mays Deal ablehnen und Neuwahlen anstreben. Gelingt das nicht, müsse sich die Partei für ein zweites Referendum einsetzen. "Das Problem ist, dass Corbyn und ein paar Leute aus seinem Schattenkabinett immer noch darüber reden, wie sie einen besseren Deal mit der EU bekommen können", sagt die Wissenschaftlerin. "Dabei weiß jeder, dass das pure Fantasie ist."

Kaldor hat einen anderen Vorschlag: "Corbyn soll aufhören zu sagen, was er glaubt, das die Menschen hören wollen, und anfangen, seine eigenen Überzeugungen zu vermitteln." Die Menschen wünschten sich, dass er endlich Führung übernehme - eine starke Position für "Remain and Reform", also die Überzeugung, dass es besser sei, die EU zu verbessern als zu verlassen.

Appell an Corbyn

Indes werden die Stimmen lauter, die einen Misstrauensantrag gegen May fordern. Zuletzt taten das die Sprecher aller übrigen Oppositionsparteien am Dienstag in einem offenen Brief an Corbyn. "Zwar würde der Misstrauensantrag nicht durchgehen", sagt Kaldor, "allerdings müsste Corbyn danach ein zweites Referendum anstreben." Kaldor plädiert dafür, stattdessen gleich ein Referendum einzufordern. Diesmal, da ist sie sicher, würde sich die Mehrheit der Briten gegen den Brexit entscheiden. "Alles hängt vom Verhalten Labours in den kommenden Wochen ab."

Ergreife die Partei nicht bald die Initiative für eine weitere Volksbefragung, dann bestehe die Gefahr, dass May eine ansetzt - allerdings nicht über den Brexit, sondern lediglich über ihren Deal. Die Option, in der EU zu bleiben, wäre dann vom Tisch.