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Mit dem niederländischen Modell die irische Grenzfrage lösen

Von Alexander Dworzak

Politik

Die EU-27 wollen den Brexit-Vertrag nicht aufschnüren, als Kompromiss gilt ein Zusatzprotokoll.


London/Brüssel. Es ist eine schwierige Gratwanderung für die EU-27. Die Staats- und Regierungschefs wollen Theresa May entgegenkommen, damit die britsche Premierministerin den Austrittsvertrag mit der Union doch durch das Londoner Unterhaus bringt. "Es geht nicht darum, Maximalpositionen durchzuboxen, sondern eine Regelung zu finden, die für beide Seiten die bestmögliche ist", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Donnerstag vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel.

Einig sind sich die verbleibenden 27 Länder allerdings auch darin, dass der über zwei Jahre ausverhandelte Austrittsvertrag nicht mehr aufgeschnürt wird. Darin befindet sich jedoch der Hauptkritikpunkt von Mays Gegenspielern im eigenen konservativen Lager: der "Backstop". Um eine harte Zollgrenze zwischen dem zum Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden, sind die Briten bis zum Abschluss eines Abkommens an die Zollunion mit der EU gebunden. Solange Großbritannien Teil der Zollunion ist, kann es mit anderen Weltregionen lediglich neue Handelsverträge über Dienstleistungen und Investitionen schließen - aber nicht über den Warenverkehr. Die strammen EU-Gegner wollen daher den ungeordneten EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019.

Bei Ukraine-Abkommen erprobt

Dieses Szenario wollen sowohl May als auch die EU-27 vermeiden. Daher tüfteln in Brüssel und London die Experten, welche Zugeständnisse an die Premierministerin möglich sind. Um den Austrittsvertrag unberührt zu lassen, kursiert die Idee einer zusätzlichen Erklärung. Die Politologin Melanie Sully erinnert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" daran, dass ein Zusatzprotokoll bereits bei einem anderen schwierigen Fall angewandt wurde: dem EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine. 2016 sprachen sich die Niederländer in einer Volksabstimmung - sie war von innenpolitischen Motiven überlagert - gegen den Pakt aus. Die Regierung in Den Haag schrieb daraufhin per Zusatzprotokoll unter anderem fest, dass die Ukraine aufgrund des Assoziierungsvertrags kein Recht auf eine EU-Mitgliedschaft habe. Die übrigen 27 EU-Länder akzeptieren das Protokoll, worauf es vom niederländischen Parlament gebilligt wurde.

Wohl nicht zufällig machte May bei ihrer dieswöchigen Werbetour durch Europa als Erstes in den Niederlanden Station. Und Premier Mark Rutte sprach sich am Donnerstag für eine "Entmystifizierung" der umstrittenen Backstop-Frage aus.

Sollte May ein Protokoll heimbringen, muss sich weisen, ob es den britischen Parlamentariern rechtlich einwandfrei erscheint. Die Premierministerin versprach schließlich eine juristisch und politisch bindende Lösung.

Was kann die EU inhaltlich anbieten? Im Entwurf der Gipfelabschlusserklärung heißt es, die EU stehe bereit zu prüfen, ob Großbritannien weitere Zusicherungen gemacht werden könnten, dass der Backstop keine Dauerlösung sein solle. Das könnte Mays Kritikern Wind aus den Segeln nehmen, die Europäische Union würde Großbritannien auch in Zukunft "knebeln". "Doch bereits der Austrittsvertrag besagt, dass der Backstop keine ewige Lösung ist", sagt Sully, Direktorin des Go-Governance-Instituts.

Mit der Vertragsdebatte wird also innenpolitisches Kleingeld in London gewechselt. Wie groß die Unzufriedenheit mit May im eigenen Lager ist, zeigte das Misstrauensvotum unter ihren konservativen Parlamentariern. Erwartet wurde, dass sich bis zu 100 gegen sie stellen; letztlich waren es sogar 117, während 200 Abgeordnete May stützten. Bis zu 80 Gegner gehören dem harten "Brexiteer"-Kern um Jacob Rees-Mogg an, schätzt Sully.

80 für May verlorene Tories

Diese Abgeordneten sind für May verloren, egal, welchen Inhalt ein Zusatzprotokoll trägt. Sie hätten meist auch komfortable Mehrheiten in ihren Wahlkreisen, scheuten daher Neuwahlen nicht, sollte May tatsächlich stürzen. "Abgeordnete, die über keine große Mehrheit verfügen oder in einem Wahlkreis leben, der von einem harten Brexit schwer getroffen wird, könnte ein Zusatzprotokoll reichen", vermutet Melanie Sully. Um Brexit-Vertrag und Zusatzprotokoll durchzubringen, benötigt May aber auch Dutzende Abgeordnete der oppositionellen Labour Party, welche die Stimmen der 80 konservativen Abweichler kompensieren müssten.

Um diese Personen zu ködern, könnten Gerüchten zufolge auch Eckpfeiler der künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien im Zusatzprotokoll erwähnt werden. Bisher ist lediglich die Vision einer "Freihandelszone, die tiefe Kooperation bei Regeln und Zoll" beinhalte, festgeschrieben, und zwar in der Ende November beim EU-Gipfel verabschiedeten Absichtserklärung, die den EU-Austrittsvertrag ergänzt. Scheitert dieser, ist auch die Absichtserklärung hinfällig. Wie auch ein etwaiges Zusatzprotokoll.