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Die letzte Abnabelung von Moskau

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In Kiew wurde die Eigenständigkeit der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche gefeiert. Doch nicht alle stimmen in den Jubel ein.


Kiew. Während drinnen Geschichte geschrieben wird, gibt es draußen Public Viewing. Es ist bitterkalt, minus sieben Grad und dichter Schneefall, aber vor der Videowall auf dem Kirchenvorplatz haben sich schon am Morgen einige Hartgesottene versammelt. Sie ziehen sich ihre Mützen und Schals tief ins Gesicht, zücken ihre Handys und Kameras, während aus den Boxen die ersten Chorgesänge donnern und an den Ständen die heißen Glühweintöpfe in den Himmel dampfen.

Es war kein gewöhnliches orthodoxes Weihnachtsfest, das heuer in der Kiewer Sophienkathedrale gefeiert wurde. Am Wochenende wurde in Istanbul das Dokument zur Unabhängigkeit der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, das sogenannte "Tomos", vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus unterzeichnet. Am Sonntag wurde die Bulle während des Gottesdienstes in der Kiewer Kathedrale schließlich - medienwirksam im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen - präsentiert. "Heute feiern wir unsere kirchliche und geistliche Unabhängigkeit", donnern die Worte des Metropoliten Epiphanius und Kirchenoberhauptes durch die Lautsprecher auf dem Vorplatz. "Ich danke Gott, dem Patriarchen Bartholomäus und dem Präsidenten Petro Poroschenko."

Ein geschichtsträchtiger Augenblick, freut sich die Buchhalterin Jelena Tatjana, lila Kunstpelzmantel und lila Kunstpelzmütze, die sich vor der Videowall fotografieren lässt. Später will sie ihrer Enkelin mit dem Foto beweisen, dass sie an diesem Tag dabei war. "Wir haben so lange auf dieses Ereignis gewartet. Als unabhängiges Land sollten wir auch eine unabhängige Kirche haben." "So etwas erlebt man ja nicht alle Tage", sagt auch Grigorij Meson, ein Lehrer aus dem Kiewer Umland, seine Frau Ljudmilla untergehakt. Später wollen sie sich anstellen, um die Bulle mit eigenen Augen zu sehen. Eine "ukrainische Reliquie", die nach der Messe in einer Seitenkirche für alle Besucher ausgestellt sein wird, so hatte es Poroschenko in seiner Rede versprochen.

Als kirchenrechtlich anerkannt hatte bisher immer nur die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (kurz: UOK-MP) gegolten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte sich allerdings die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (kurz: UOK-KP) abgespaltet. Bisher wurde die Kirche nicht anerkannt, doch mit dem "Tomos" ändert sich das: Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche ist fortan eine von 15 eigenständigen, "autokephalen" Teilkirchen des Ökumenischen Patriarchats. Und so gibt es ein Wort, das heute alle im Munde führen: "historisch".

"333 Jahre hat es gedauert, bis wir wieder eine unabhängige Kirche haben!", jubelt die Pensionistin Ljudmilla Nawyschin. Sie bezieht sich auf das Jahr 1686, als Kiew dem Patriarchen von Moskau unterstellt wurde. "Das ist wie eine zweite Unabhängigkeit der Ukraine", sagt Wolodymyr Ariew, der für den "Block Petro Poroschenko" im ukrainischen Parlament sitzt. "Und ein weiterer Beweis, dass wir uns aus dem russischen Orbit lösen und dass unser Weg der Eigenständigkeit irreversibel ist." Hinter ihm, auf dem Sockel des Weihnachtsbaums, flimmern Weihnachts- und Neujahrswünsche über eine digitale Anzeige - in allen Sprachen: Ukrainisch, Englisch, Deutsch, Spanisch und Türkisch. Aber nicht auf Russisch.

Es war vor allem Poroschenko, der das Projekt zuletzt vorangetrieben hatte. Ein Grund, warum der Philosoph Oleksij Panytsch den ukrainischen Präsidenten gar in eine Reihe mit historischen Figuren wie dem Großfürsten Wladimir stellt, der das mittelalterliche Reich der Kiewer Rus 998 christianisierte: "Poroschenko hat sich damit in die Geschichte eingeschrieben", sagt er zur "Wiener Zeitung".

Poroschenkos Engagement hat aber wohl auch ganz profane Gründe: Am 31. März finden Präsidentschaftswahlen statt, laut Umfragen liegt er derzeit nur auf Platz fünf. Mit der Gründung der Nationalkirche hofft er wohl, bei den traditionell gläubigen Ukrainern punkten zu können. Der Präsident habe sich in seinem Amt zu einem "feurigen Anhänger der ukrainischen Kirchenunabhängigkeit" gewandelt, kommentierte der TV-Sender Hromadske nicht ohne Ironie - mit dem Hinweis, dass Kirche und Staat in der Ukraine eigentlich getrennt sind.

Die Kirche spielte im russisch-ukrainischen Konflikt immer eine große Rolle. So war es die mit dem Kreml eng verbundene Russisch-Orthodoxe Kirche, die sich seit der Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbass 2014 willig für das koloniale Projekt zur "Sammlung russischer Erde" ("russkij mir") einspannen ließ. Die UOK-KP ihrerseits hielt Gottesdienste für die Maidan-Bewegung ab und bot verfolgten Demonstranten Zuflucht.

Nur nur Jubelstimmung

Längst nicht überall in der Ukraine wird das Ereignis so bejubelt wie vor der Kiewer Sophienkathedrale. Vier Kilometer Luftlinie entfernt, in der Refektoriumskirche des Höhlenklosters, wird ebenso Weihnachten gefeiert. Die prächtigen Wandmalereien erstrahlen unter dem Licht der goldenen Luster. Es ist eines der schönsten, ältesten und größten Klöster in der Ukraine, seit 1990 wird es zum Unesco-Weltkulturerbe gezählt. Doch das Höhlenkloster, dessen blendend weiße Fassaden sich in den Abhang am Westufer des Dnipro schmiegen, gehört zum Moskauer Patriarchat. Die Priester haben sich im Kirchenraum mit ihren schwarzen, bodenlangen Roben zum Spalier aufgestellt, um ihren Metropoliten zu empfangen. Dieser hatte das "Tomos" zuvor in einer Videobotschaft als ein "betrügerisches Papierchen" verteufelt, auch Moskau bestreitet die Rechtmäßigkeit der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche. Offen ist, ob es die Russisch-Orthodoxe Kirche - mit rund 100 Millionen Gläubigen die größte orthodoxe Kirche - auf eine Kirchenspaltung ankommen lassen wird (die UOK-MP hat zwar einen eigenen Patriarchen in der Ukraine, ist aber in wesentlichen Fragen von Moskau abhängig).

Doch darüber will im Höhlenkloster heute niemand reden. Wenn die Sprache auf den Kirchenstreit kommt, winken fast alle Besucher ab - oder hüten sich zumindest davor, für eine Seite Partei zu ergreifen. "Uns ist es ganz egal, ob das Kiewer Höhlenkloster nun zum Moskauer Patriarchat gehört oder nicht", versichert Oleg, ein 54-jähriger Autoverkäufer aus Odessa. Jelena, eine Hausfrau aus dem Kiewer Umland, sieht das ähnlich. "Wenn man an Gott glaubt, spielt das dann wirklich eine so große Rolle, ob die Kirche ukrainisch oder russisch ist?", fragt sie. Nur Tatjana, die gerade ansteht, um sich Kerzen zu kaufen, flüstert: "Ich finde die Entscheidung, dass wir eine ukrainische unabhängige Kirche haben, eigentlich gut! Aber zu Weihnachten komme ich nun mal immer hierher, weil das schon seit Jahrhunderten ein heiliger Ort ist."

Streit über Kirchenbesitz

Doch vereinzelt gibt es auch Stimmen wie die von Sergej, einem 65-jährigen Kiewer Unternehmer. "Ich mache mir große Sorgen", sagt er. "Diese Entscheidung wird wohl dazu führen, dass das Höhlenkloster in das Eigentum der neuen ukrainischen Kirche überführt wird. Ich möchte einfach, dass alles friedlich bleibt und nicht, dass es auch noch zwischen den Kirchen einen Krieg gibt. Das kann doch kein Gläubiger wollen!"

Die Frage, wer dereinst über das Eigentum des Moskauer Patriarchats in der Ukraine wachen wird, ist natürlich eine handfeste materielle Angelegenheit: Das Höhlenkloster, mit einer Million Besucher jährlich eines der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Kiews, gilt als Kronjuwel unter den Besitztümern des Moskauer Patriarchats. Es wird geschätzt, dass die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche derzeit in der Ukraine rund 6700 Kirchen kontrolliert. Dem stehen mit rund 12.000 Kirchen des Moskauer Patriarchats aber fast doppelt so viele Kirchen gegenüber. Wie stark die neue Kirche sein wird, wird wohl letztlich davon abhängen, ob es zu Überläufern aus dem Moskauer Patriarchat kommen wird - und wie Moskau auf die neue Kirche reagiert.