Zum Hauptinhalt springen

"Schon Gedanke an weichen Brexit ist Verrat"

Von Siobhán Geets und Michael Schmölzer

Politik

Die britische Premierministerin Theresa May legt am Montag zweiten Brexit-Plan vor. Ihre Gegner sind alarmiert.


Wien/London. Ratlosigkeit schlägt in Verzweiflung um, je näher der EU-Austritt Großbritanniens am 29. März rückt. Seit sich die Abgeordneten in Westminster vorige Woche mehr Mitsprache beim Brexit erkämpft haben, ist der Ausgang des Brexit-Dramas offener denn je.

Nach ihrer historischen Niederlage im Parlament soll Premierministerin Theresa May am Montag einen neuen Brexit-Plan auf den Tisch legen. Neu ist, dass die Parlamentarier danach ihre Änderungsanträge dazu einbringen können - und die sind ebenso vielfältig wie die Meinungen über den Brexit im völlig zerstrittenen Unterhaus.

So hat Labour-Chef Jeremy Corbyn angekündigt, seinen eigenen Plan für ein Abkommen mit der EU in Form eines Änderungsantrags präsentieren zu wollen. Und die Tory-Hinterbänklerin Sarah Wollaston will die Abgeordneten über ein zweites Referendum abstimmen lassen. Ihr Kollege Rick Boles könnte mit seinem Zusatzantrag dafür sorgen, dass das Parlament die Entscheidungen im Brexit-Verfahren überhaupt an sich reißt. Allerdings müsste dafür erst die Geschäftsordnung geändert werden.

Keine Mehrheit in Sicht

Haben die Abgeordneten ihre Alternativeinträge eingebracht, stimmen sie darüber ab. Am Abkommen Mays mit der EU ändert das allerdings nichts - Änderungen daran müssten erst mit der EU ausverhandelt werden. Angenommene Anträge sind zwar rechtlich nicht bindend, aber dennoch relevant: Bisher findet sich unter den Abgeordneten für keinen einzigen Vorschlag darüber, wie der Brexit aussehen soll, eine Mehrheit.

Angenommen, das Parlament nimmt einen oder mehrere Anträge an: May müsste wohl damit nach Brüssel reisen und versuchen, das Brexit-Abkommen entsprechend zu ändern. Gelingt ihr das, würde das Unterhaus einmal mehr über den neuen Deal abstimmen. Auf diese Weise könnte London einen ungeregelten Brexit noch verhindern. Stimmt das Unterhaus gegen Mays Abkommen und findet sich keine Mehrheit für eine Alternative, dann schlittert das Vereinigte Königreich in der Nacht zum 30. März automatisch aus der EU.

Mit einem Schlag wäre das Land dann ein Drittstaat - mit allen Konsequenzen. An den Grenzen müssten wieder Zölle eingehoben werden und Großbritannien würde aus dem Binnenmarkt ausscheiden - auf beiden Seiten eine Katastrophe für die Wirtschaft. Eine Übergangszeit, in der vorerst alles so bleibt, als wäre das Königreich noch EU-Mitglied, gebe es bei einem ungeordneten Brexit nicht.

Egal, welche Alternative zu einem No-Deal-Brexit nun verfolgt wird: Eine Verschiebung des EU-Austritts in zehn Wochen wird immer wahrscheinlicher. Ein vorläufiges Ende des Brexit-Thrillers ist nur in Sicht, wenn die Abgeordneten im britischen Unterhaus mehrheitlich für Mays Deal stimmen. Auch für ein zweites Referendum würde die Zeit bis Ende März nicht reichen. Es gibt zwar im Parlament keine Mehrheit dafür, doch Referendums-Befürworter finden sich in beiden großen Parteien, Labour wie Tory. Erstere sind mehrheitlich dafür - doch Corbyn will sich nicht für eine zweite Volksabstimmung einsetzen.

In Brüssel ist man unterdessen dazu verurteilt, dem britischen Chaos ohnmächtig zuzuschauen. Man wisse zwar zur Genüge, was die Briten nicht wollten, nicht aber, was sie wollten, heißt es hier. Und diese Ungewissheit verhindert, dass die EU auf London zugehen kann.

Dass es ein Entgegenkommen geben könnte, ist nicht ausgeschlossen. Brexit-Unterhändler Michel Barnier würde es begrüßen, sollte sich Großbritannien nach dem Austritt enger als bisher geplant an die EU binden. Dann, so Barnier, wäre eine Lösung schnell gefunden. Wünschenswert wäre, dass die Briten in der Zollunion - besser noch, im Binnenmarkt - blieben.

Johnson ist "wütend"

Das hat Theresa May bis dato ausgeschlossen. Sie fühle sich dem Volkswillen verpflichtet, sagt sie, und der verlange nach der Abstimmung von 2016 einen Austritt aus der EU - und keine halben Sachen. Eine Zollunion würde bedeuten, dass die Briten künftig keine eigenen Handelsverträge mit Drittländern abschließen können, für die Austritts-Fans eine unzulässige Beschneidung jener "Souveränität", die man sich durch den Brexit erhoffte. Bliebe man im Binnenmarkt, dann müsste Großbritannien schrankenlose Zuwanderung aus der EU tolerieren - ein Unding für alle, die im Juni 2016 für einen Austritt aus der EU gestimmt haben.

Oppositionschef Jeremy Corbyn will sich jedenfalls für eine "neue Zollunion" mit der EU einsetzen. Freier Personenverkehr, eine der Hauptsäulen des Binnenmarktes, ist bei Labour nicht vorgesehen. Das wäre dann das berühmte "Rosinenpicken", auf das sich die EU nicht einlassen wird.

Der Brexit-Wortführer der Tories, Boris Johnson, hat am Freitag May davor gewarnt, sich mit Labour auf einen weicheren Deal zu verständigen. Dass die Regierung überhaupt erwäge, sich weiterhin EU-Regeln zu unterwerfen, um im Binnenmarkt zu bleiben, mache ihn "wütend". Es handle sich dabei um "Verrat". Die EU könnte dann nämlich Entscheidungen treffen, ohne dass Großbritannien dabei ein Wort mitzureden habe, so Johnson.