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"Großbritannien badet gerne lauwarm in Nostalgie"

Von Heike Hausensteiner

Politik

Der Brexit werde jahrzehntelang dauern, sagt der britische Ex-Europaminister Denis MacShane.


"Wiener Zeitung": Sie rechnen mit "Brexeternity", einem EU-Austritt, der sich über Jahre ziehen wird. Warum?

Denis MacShane: Sowohl bei einem ungeregelten Chaos-Austritt als auch mit der zwischen Großbritannien und der EU ausverhandelten Rückzugsvereinbarung wird es jahrelang Schwierigkeiten in Politik und Wirtschaft geben. Das beinhaltet etwa jahrelange Verhandlungen zwischen London und Brüssel, um die Details der künftigen Beziehung zu verhandeln. Daher mein Konzept von "Brexeternity". Der Brexit endet nicht am 29. März 2019. Das ist erst der Beginn, er wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Ich habe das Wort "Brexit" erstmals im Jahr 2012 verwendet - jetzt füge ich "Brexeternity" dem politischen Lexikon hinzu.

Wie London mit dem Brexit umgeht, erinnert vom europäischen Kontinent aus gesehen an Ahnungslosigkeit und Nabelschau.

Das liegt an 25 Jahren interner Uneinigkeit vor allem bei den Konservativen, denen die Parteichefs und die Anti-EU-Medien immer wieder gesagt haben, an allen Problemen in Großbritannien wäre Europa schuld. May hat eine Partei geerbt, die sich selbst und den Mitgliedern nie reinen Wein eingeschenkt hat, was die EU ist und inwiefern Großbritannien von der Mitgliedschaft profitiert.

Brüssel hat von Anfang an Änderungen am gemeinsam verhandelten Brexit-Deal ausgeschlossen. Warum werden im britischen Unterhaus überhaupt neue Vorschläge diskutiert und abgestimmt?

Die politischen und medialen Eliten in England sind sehr insular, engstirnig. Nur wenige sprechen Fremdsprachen oder können ein französisches oder deutsches Wochenmagazin lesen. Sie leben in ihrem eigenen selbstbezogenen Universum und nehmen gar keine Notiz davon, wie man in den europäischen Hauptstädten denkt.

Großbritanniens Verhältnis zur EU ist seit Beginn der Mitgliedschaft 1973 schwierig. Selbst nach dem Austritt unterliegt es dem Gemeinschaftsrecht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Stellt das Ihr Land wieder vor Probleme?

Ja. Das Vereinigte Königreich war manchmal eigen als EU-Mitglied. Es war aber auch die Nation, die den Binnenmarkt vorangetrieben, massive Nettozahlungen geleistet und die Arbeitslosen aus Ost- und Süd-Europa aufgenommen hat. Alle Mitgliedstaaten haben Probleme mit Aspekten der EU-Politik - nehmen Sie Österreich und die Zuwanderer. Das Problem im UK ist, dass fast 30 Jahre lang kein Regierungschef die positiven Aspekte der EU erklärt hat.

Widerspiegelt die britische Debatte jetzt nicht auch die Schatten des früheren Empires?

Sicherlich badet Großbritannien gerne lauwarm in Nostalgie. Die anderen Reiche in Europa - das französische, das spanische, das österreichisch-ungarische, das russische - haben alle ein böses Ende genommen und werden in der öffentlichen Meinung nicht verehrt. Wir sind die erste post-imperiale Nation, wo das eigene Großreich zuletzt speziell durch Winston Churchill verkörpert wurde, indem er 1940 gegen den nationalen Faschismus in Europa aufstand.

Laut einer Umfrage hat bei 69 Prozent der Briten die Wut auf die Politik seit dem Brexit-Referendum zugenommen, 40 Prozent erwarten gewaltsame Proteste und zivilen Ungehorsam in den kommenden Wochen. Ist Großbritannien mit dem EU-Austritt in eine selbst gestellte Falle geraten, wo es doch innerhalb des Landes andere Probleme zu lösen gelte?

Wir hatten in manchen Städten immer wieder schwere Unruhen und Sachbeschädigungen in den vergangenen 30 bis 40 Jahren. Eine Parlamentarierin (Jo Cox, Anm.) wurde von einem Rechtsextremen während der Brexit-Kampagne 2016 ermordet. Proeuropäische Parlamentarier werden beschimpft oder von den Boulevardmedien beschuldigt, Feinde der Bevölkerung zu sein. Aber ich rechne nicht damit, dass das in gewaltsame Ausschreitungen wie bei den Gelbwesten in Frankreich umschlagen könnte. Viele der überzeugten Brexit-Anhänger sind ziemlich alt. Wenn die Leute einen Gehstock haben oder alle paar Minuten auf die Toilette müssen, sind Ausschreitungen schwer zu organisieren.

Sind die dominierenden Medien mitverantwortlich für das derzeitige Brexit-Chaos in Ihrem Land?

Heute hörte ich auf BBC, wie ein ehemaliger Brexit-Minister der Tories, ein cleverer Anwalt, sagte, zwischen der Schweiz und seinen Nachbarn gäbe es keine Grenzposten oder -kontrollen. Der BBC-Sprecher, ein berühmter Politik-Korrespondent, hätte nur daran denken müssen, wie die Realität wirklich aussieht oder dass die Schweiz ganz normale Grenzkontrollen hat wie alle Länder. Somit wurde die Lüge nicht korrigiert. Die Berichterstattung der BBC und der meisten britischen Medien ist fokussiert auf britische Parlamentarier und tut so, als ob der Brexit ein Match zwischen proeuropäischen und Anti-EU-Parlamentariern wäre. Es gibt sehr wenig Interesse daran, Tatsachen herauszufinden oder Experten zu Wort kommen zu lassen, die wissen, wie Europa funktioniert.

Theresa May war ursprünglich EU-Anhängerin. Hat sie tatsächlich ihre Meinung geändert oder spielt sie ein Spiel bis Ende März?

Sie ist ein typisches Beispiel für ihre Generation der Tory-Abgeordneten, die seit 20 Jahren im Parlament sitzen: Man hat ihnen ständig gesagt, die EU wäre schlecht für das UK. Einen EU-Austritt haben sie nie wirklich unterstützt, aber sie sind mit dem Strom geschwommen, immer etwas Negatives an der EU zu finden und nie etwas Positives. May ist besessen von "zu vielen Ausländern", ähnlich wie Trump oder FPÖ- oder CSU-Politiker. Ich glaube, sie will einen Crash-Austritt ohne Deal vermeiden - ihre oberste Priorität ist jedoch, die Einigkeit der Konservativen Partei zu bewahren.

Warum zieht die Premierministerin das Brexit-Ansuchen nicht einfach zurück - zum Beispiel mit der Aussicht auf künftige EU-Vertragsreformen, bei denen Großbritannien dann mitbestimmen könnte?

Sie sieht sich als Verteidigerin der Volksabstimmung vom Juni 2016. Es gibt einen rechtsstaatlichen Wettstreit in Großbritannien zwischen der direkten Demokratie durch Plebiszite und der repräsentativen Demokratie durch das Parlament. 300 Jahre lang war das Parlament das Höchste. In den vergangenen 40 Jahren hat das UK mit Volksabstimmungen experimentiert. Wir haben keine geschriebene Verfassung, die bestimmen würde, wie und wann ein Referendum abzuhalten wäre. Lediglich 37 Prozent aller Wahlberechtigten stimmten für den Brexit. Das ist ein sehr niedriger Wert, und es war kein rechtlich bindendes Referendum. May wurde Premierministerin aufgrund des Brexit-Referendums, sie verteidigt lieber die Referendumsdemokratie, anstatt zurückzukehren zur Demokratie durch das Parlament und gewählte Abgeordnete, die das letzte Wort haben sollten. Der Labour-Chef ist ebenfalls gegen ein zweites Referendum, weil er seit mehr als 40 Jahren EU-Skeptiker ist - er glaubt sogar, dass seine Idee vom Staatssozialismus umgesetzt werden kann, wenn das UK nicht unter den EU-Vorgaben leben muss.