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"Deutschland ist ein Hinterbänkler"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Laut Energieexperten Graicher muss sich Deutschland noch gehörig anstrengen, um den für 2038 angepeilten Kohleausstieg zu stemmen.


Die Energiewende in Deutschland gilt als Jahrhundertprojekt. Bis 2050 sollen 90 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen werden als im Referenzjahr 1990, der Anteil der Erneuerbaren Energien soll im selben Zeitraum auf 80 Prozent steigen. Gelingen wird die Energiewende allerdings nur, wenn Deutschland den Ausstieg aus der Kohle schafft. Der Grundstein dafür wurde in der vergangenen Woche gelegt. Die von der Regierung eingesetzte Kohlekommission hat mit dem Jahr 2038 ein Enddatum für die klimaschädliche Kohleverstromung vorgeschlagen, begleitet werden soll der Ausstieg von einem 40 Milliarden Euro schweren Unterstützungspaket für die betroffenen Regionen. Aus Sicht von Patick Graichen, Geschäftsführer der Denkfabrik Agora Energiewende, muss Deutschland in den nächsten Jahren aber noch deutlich nachlegen, um den angepeilten Strukturwandel zu schaffen.

"Wiener Zeitung":Umweltschützer und Politik sind gleichermaßen zufrieden. Und auch Sie waren voll des Lobes für den Kohleausstiegsplan. War das, was die Kohlekommission da vorgeschlagen hat, tatsächlich der große Wurf?

Patrick Graichen: Ich glaube, man muss da unterscheiden. War es vom Politikansatz ein großer Wurf? Dann ja. Weil wir jetzt einen gemeinsamen Vorschlag auf dem Tisch haben, der von den Umweltverbänden bis hin zum Bund der deutschen Industrie getragen wird. Ist dieser Vorschlag das, womit Deutschland seinen Anteil an den weltweiten Klimazielen leistet? Dann nein. Da werden wir in allen anderen Bereichen noch nachlegen müssen.

Vielfach ist die Rede davon, dass mit dem Kohleausstieg nicht nur Jobs verloren gehen, sondern auch der Strompreis steigen wird.

Diese Strompreissteigerungen waren Horrorszenarien, die kurz vor der letzten Sitzung der Kohlekommission lanciert worden sind. Das hat keinerlei Basis. Alle Szenarien, die seriös dazu berechnet wurden, zeigen, dass der Kohleausstieg den Strompreis ein bisschen verteuert, durch den Zuwachs bei Erneuerbaren Energien wird es aber wieder billiger. Im Jahr 2030 kommt damit in etwa pari heraus.

Pari auch deswegen, weil die Erneuerbaren Energieträger im Laufe der Zeit noch billiger werden?

Neue Wind- und Solaranlagen bewegen sich in der Größenordnung von 4 bis 5 Cent pro Kilowattstunde. Der Börsenstrompreis ist mittlerweile auch bei 5 Cent die Stunde. Da gibt es keine große Subventionsmaschine mehr.

Inwieweit kann der Kohleausstieg für die betroffenen Regionen auch eine Chance sein?

Meines Erachtens kann er eine große Chance sein, weil durch die aktive Gestaltung des Strukturwandels jetzt die Möglichkeit besteht, in Zukunftstechnologien zu investieren. Man lässt es also nicht auf sich zukommen und steht dann hilflos da. Weil jetzt klar ist, dass bis 2030 etwa 60 Prozent der Kohlekraftwerke vom Netz gehen und danach der Rest, sind Investitionen wie etwa die Errichtung des Forschungsinstituts für die De-Karbonisierung der Industrie oder der Bau neuer Gaskraftwerke nun planbar.

Sie haben jetzt ein Forschungsinstitut angesprochen. Werden in den betroffenen Kohleregionen tatsächlich auch Erneuerbare Energien angesiedelt werden?

Man hat jetzt etwa die Möglichkeit, auf den ehemaligen Tagebauflächen Wind- und Solaranlagen zu errichten. Denn dort ist die gesamte Netz-Infrastruktur ja schon vorhanden und die kann man nutzen, zum Beispiel für eine Power-to-Gas-Pilotanlage oder ein Zentrum, in dem die grüne Wasserstofftechnologie vorangetrieben wird. Das sind Technologien, die wir für die Energiewende ab 2030 brauchen werden.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat ja kritisiert, es sei die Chance vertan worden, den Kohleausstieg mit einer grundlegenden Reform der Energie- und Klimapolitik zu verbinden. Wie sehen Sie das?

Natürlich wäre es schön, wenn man gleich alle Probleme auf einmal lösen könnte. Aber das ist wahrscheinlich eine zu hohe Anforderung an eine Kohlekommission. Ökonomen tendieren dazu, den großen Wurf zu fordern, die Realität ist so, dass man Schritt für Schritt vorgehen muss.

Nach dem Kompromiss ist auch der Vorwurf laut geworden, der Ausstiegsplan würde dem Klima kaum nützen, weil dann Kohlekraftwerke aus Polen und Tschechien die Lücke füllen würden.

Das ist Unsinn. Es gibt viele Berechnungen, die zeigen, dass der Saldo von Stromimporten und -exporten in der Jahresbilanz annäherend null sein wird, wenn man parallel zum Kohleausstieg die Erneuerbaren Energien auf einen 65-Prozent-Anteil ausbaut. Und genau das hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag ja mit dem Zieljahr 2030 beschlossen. Die zweite Frage ist, wie die Versorgungssicherheit in Zeiten gewährleistet wird, in denen es keinen Wind und keine Sonne gibt. Das wird eine Mischung aus Speicher- und Gaskraftwerken sein. Dafür werden wir Anreize schaffen müssen. Ich sehe aber auch, dass viele Investoren im Bereich neue Gaskraftwerke jetzt endlich Sicherheit haben. Daher erwarte ich, dass es hier in nächster Zeit Zubauten geben wird.

Wenn wir schon bei Anreizen sind. Warum muss der Ausstieg in diesem Maße politisch geregelt werden? Wäre es nicht besser, dem Markt diese Aufgabe zu überlassen, indem man CO2-Emissionen verteuert?

Da haben Sie recht, das wäre natürlich das Einfachste gewesen und so haben es zum Beispiel auch die Briten gemacht. Wenn man allerdings auch Bergwerke und Tagebau daran hängen hat, es also um einen Strukturwandel geht, dann sieht es anders aus. Einfach nur ein Kraftwerk dichtzumachen ist kein großes Thema. Den Tagebau zu rekultivieren benötigt allerdings eine Vorlaufzeit von vielen Jahren, da hängt die Wirtschaftskraft von ganzen Regionen dran. Insofern ist der simple Ansatz über die Preise zu einfach.

Deutschland hat sich ja vorgenommen, bis 2020 um 40 Prozent weniger klimaschädliche Emissionen auszustoßen. Nun erreicht man dieses Ziel wohl erst 2025. Ist der selbst ernannte Klimamusterschüler Deutschland in Wahrheit gar nicht so mustergültig?

Das ist genau unser Problem. Wir sind vom Musterschüler zum Hinterbänkler geworden. Die Ergebnisse der Kohlekommission sind jetzt ein Teil des Versuchs, wieder nach vorne zu kommen. Man wird jetzt sehen, was die Verkehrskommission, die derzeit ja noch tagt, an Vorschlägen liefert. Nächste Woche kommt wohl - mit ziemlicher Verspätung - auch der Einsetzungsbeschluss der Gebäudekommission. In der Gesamtschau aus Kohle-, Verkehrs- und Gebäudekommission und ihrer anschließenden Umsetzung in nationales Recht werden wir Ende 2019 sehen, ob Deutschland wieder vorne mit dabei ist.

Wo sind denn die größten noch bestehenden Hürden für die geplante Energiewende?

Der Netzausbau ist sicher eines der zentralen Themen. Mehr Erneuerbare Energien heißt auch mehr Windstrom aus dem Norden Deutschlands, der dann in den Süden transportiert werden muss. Doch der Netzausbau stockt derzeit und er wird nicht vor 2030 fertig sein. Hier ein aktives Management zu haben, das die Sache forciert, aber gleichzeitig auch eine sinnvolle Bürgerbeteiligung möglich macht, ist sicher eine Großbaustelle. Das zweite Thema ist die Energieeffizienz. Bei der Gebäudesanierung dümpeln wir seit Jahrzehnten auf dem Niveau von einem Prozent bei der energetischen Sanierung von Altbauten herum. Wenn man dabei bleibt, braucht man hundert Jahre, bis der Bestand saniert ist. Das reicht nicht. Wir brauchen hier endlich eine Verdopplung bis Verdreifachung der Anstrengung.

Wo ist das Problem? Fehlt der politische Wille?

Beim Netzausbau braucht es eine bessere Planung. Die Netzbetreiber legen nächste Woche ihren Netzentwicklungsplan für 2030 vor und da wird deutlich, dass man für das Ziel von 65 Prozent Erneuerbare Energien mehr Netze braucht als bisher gedacht. Dieses scheibchenweise Vorgehen ist meines Erachtens falsch. Schon jetzt sollte man für eine Welt mit 80 bis 100 Prozent an Erneuerbaren Energien planen und das auch ehrlich kommunizieren. Dann sollte man gemeinsam mit den Bürgern die besten Trassen bestimmen und das dann auch durchziehen und nicht darauf warten, bis der Letzte dagegen geklagt hat. Dieses Transparentmachen, aber auch das sich gegen Widerstände Durchsetzen fehlt bisher. Beim Thema Effizienz geht es vor allem ums Geld. Wir diskutieren seit Jahren darüber, dass wir eine steuerliche Förderung der Gebäudesanierung einführen. Das sind Steuerausfälle von ein bis zwei Milliarden Euro, aber die muss man zu tragen bereit sein. Daran ist es bisher gescheitert und das ist ein Armutszeugnis.

Wie geht der Ausbau der Erneuerbaren Energien generell voran?

Wir waren in den letzten Jahren gut unterwegs. Bei Wind an Land bricht es gerade ein, weil die Genehmigungen fehlen. Das hat etwas mit dem Widerstand einiger Bürgerinitiativen zu tun, aber auch damit, dass sich die Projektentwickler nun mehr absichern und auch dort Umweltverträglichkeitsprüfungen machen, wo keine nötig sind. Wind an Land wird jetzt ein bisschen zum Sorgenkind, dafür kommt die Solarenergie wieder nach oben. Nach Jahren, wo sie unter zwei Gigawatt Zubau war, ist da nun eine deutliche Erhöhung möglich, sodass ich insgesamt vorsichtig optimistisch bin, dass wir auf die 65 Prozent zumarschieren können.