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Wie Nordirland zum Spieleinsatz wird

Von Siobhán Geets

Politik

Eine Grenze auf der irischen Insel wäre nicht nur ein wirtschaftliches Fiasko. Sie würde auch das fragile Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten in Gefahr bringen.


Belfast/Dublin/London. Stacheldraht, gepanzerte Polizeiautos, Mauern zwischen katholischen und protestantischen Vierteln. Was sich anhört wie eine Straßenszene während des Nordirlandkonflikts, ist in Teilen Belfasts Alltag. Nach wie vor bestimmen Identität und Religion das Leben vieler Menschen. Zwar entwickelt sich innerhalb der Mittelschicht langsam so etwas wie eine nordirische Identität. Doch entlang der Grenzmauern in den traditionellen Arbeitervierteln ist davon nichts zu spüren. Dutzende "Peacewalls" trennen protestantisch-unionistische Wohngebiete von katholisch-republikanischen, in der Nacht fliegen häufig Steine und Ziegel über den Betonwall. Das Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen ist groß. In Nordirland dreht sich immer noch viel um das alte Thema: Identität.

Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 sind die "Troubles" vorbei. Doch der Frieden ist fragil, immer wieder wird der alte Konflikt spürbar. Rund 3500 Opfer hat der Bürgerkrieg zwischen 1969 und 1998 gefordert. Zwar hat die damalige IRA nach und nach die Waffen abgegeben, aber zahlreiche Splittergruppen sind bis heute aktiv. Zu Angriffen paramilitärischer Gruppen und zu Straßenschlachten kam es in den vergangenen Jahren immer wieder. Dann stand Nordirland für einen Moment im Fokus der Medienaufmerksamkeit - bevor man es schnell wieder vergaß.

Im Angesicht eines drohenden chaotischen Brexit hat sich das geändert: Plötzlich ist wieder die Rede vom Konflikt. Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Land Irland, so die Sorge, könnten alte Wunden aufreißen. Dass ein möglicher No-Deal-Brexit eine Welle der Gewalt durch IRA-Gruppen zur Folge hätte, ist zwar unwahrscheinlich. Doch würden Grenzposten, Zollhäuschen und Polizisten einen Keil zwischen die Bevölkerungsgruppen treiben.

Der Brexit rüttelt an einem mühsam erarbeiteten Gleichgewicht. Das Karfreitagsabkommen zwischen Irland, Nordirland und Großbritannien garantierte den Katholiken in der Provinz die gleichen Rechte wie ihren protestantischen Mitmenschen. Seither können Nordiren sich entscheiden, ob sie einen britischen oder einen irischen Pass wollen - oder beides. Es bleibt ihnen überlassen, womit sie sich identifizieren. Der Brexit zwingt sie nun, sich für eine Seite zu entscheiden. Das alte Problem ist zurück.

Britisches Kalkül

Die EU hatte eine stabilisierende Wirkung auf den Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten. Seit zwanzig Jahren gibt es keine sichtbare Grenze mehr auf der irischen Insel. Mehr als 30.000 Menschen pendeln jeden Tag von einer Seite auf die andere. Scheiden die Briten am 29. März ohne Abkommen mit Brüssel aus der Europäischen Union aus, dann würde das Vereinigte Königreich über Nacht zum Drittstaat - die EU-Außengrenze verliefe quer durch Irland. Weil das Königreich bei einem No-Deal-Brexit auch aus Binnenmarkt und Zollunion ausscheidet, müssten wieder Grenzkontrollen eingeführt werden - sonst könnte die irische Grenze zum Schlupfloch in den Binnenmarkt werden. Damit das nicht geschieht, haben London und Brüssel eine Notlösung in ihr Abkommen eingebaut: Der "Backstop" verhindert eine harte Grenze auf der Insel, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Möglich wird das, indem Großbritannien in der Zollunion bleibt.

Doch das wollen die Abgeordneten in Westminster nicht, sie haben sich mehrheitlich gegen die Notlösung ausgesprochen. Für die Brexiteers ist der Backstop eine Zumutung, weil London in dieser Zeit keine neuen Freihandelsabkommen abschließen könnte. Premierministerin Theresa May hat ihn zwar mit der EU ausverhandelt. Doch seit klar ist, dass der Widerstand gegen die unbeliebte Notlösung das Einzige ist, worauf sich die Abgeordneten in Westminster einigen können, will auch sie den Backstop durch "alternative Arrangements" ersetzen. London hofft darauf, dass die restlichen 26 EU-Staaten Druck auf Dublin ausüben, um einen ungeordneten Brexit am 29. März zu verhindern. Das kleine Irland, so das Kalkül der britischen Regierung, wird seinen Widerstand gegen eine Neuverhandlung des Austrittsabkommens nicht lange aufrechterhalten können.

Bisher stand die EU geschlossen hinter Dublin, doch Beobachter sind misstrauisch. Vor allem über die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt es, sie wolle London entgegenkommen. Berlin dementiert das: Eine Neuverhandlung des Brexit-Deals sei ausgeschlossen. Deutschland, so viel ist sicher, würde besonders unter einem harten Brexit leiden. Großbritannien ist der zweitwichtigste Exportmarkt der Bundesrepublik innerhalb der EU. So wundert es nicht, dass der Druck auf Berlin, den Briten Zugeständnisse zu machen, vor allem aus der deutschen Wirtschaft kommt.

Dublin als Saboteur

Viele Politiker und Kommentatoren, nicht nur in Großbritannien, sondern auch auf dem Kontinent, verstehen nicht, wieso Irland am Backstop festhält. Die Briten werden das Abkommen so nicht unterzeichnen, sagen sie, die EU müsse London entgegenkommen. Sonst gibt es einen ungeordneten Brexit und damit sofort eine Grenze in Irland, warnen sie. In dieser Logik erscheint Dublin als gemeiner Saboteur, nur darauf aus, den ehemaligen Unterdrückern in London eins auszuwischen.

Doch so einfach ist das nicht. Einmal abgesehen davon, dass Zollkontrollen auf der Insel eine Katastrophe für die Wirtschaft bedeuten würde - auch der gesellschaftliche Schaden wäre enorm. Eine harte Grenze würde die Katholiken im Norden von der Republik im Süden abnabeln. Dublin war lange ihr Fürsprecher - und ist es nun, mit dem drohenden Brexit, umso mehr. Für sich selbst sprechen kann Belfast nicht. Seit zwei Jahren gibt es dort keine Regierung, weil die protestantische DUP und die irisch-republikanische Sinn Féin, die sich die Macht in Nordirland teilen, nach den Wahlen nicht einig wurden. Die neun Milliarden Pfund an jährlichen Förderungen aus London, die die britische Provinz am Laufen halten, fließen auch so weiter.

Im britischen Parlament sind hingegen nur die nordirischen Protestanten vertreten: Seit den Neuwahlen von 2017 ist Premierministerin Theresa May auf die Unterstützung der DUP angewiesen. Eigentlich könnten auch sieben Abgeordnete der Sinn Féin in Westminster einziehen. Doch die Republikaner aus Nordirland nehmen ihre Sitze im Unterhaus nicht ein, weil sie den Treueeid auf die Queen verweigern. So bleibt Dublin der einzige Vertreter jener Nordiren, die keinen harten Bruch mit der EU wollen. Mit dem Brexit verlieren sie auch ihren letzten Fürsprecher.

Scheitert der Backstop und verlässt das Königreich die EU ohne Abkommen, dann müsste Irland dafür sorgen, dass die Grenze zu Nordirland wieder kontrolliert wird - mit eigenen Zollbeamten und Polizisten. Dabei sieht das Karfreitagsabkommen das Gegenteil vor: Die Briten müssen dafür sorgen, dass die irische Grenze offen bleibt. Das Hickhack um den Brexit, um die Zukunft der Grenze und wie sie überwacht werden kann - all das kontrastiert mit der Lebenswirklichkeit der Nordiren. Sie brauchen die Möglichkeiten der verschiedenen Identitäten. Ein "alternatives Arrangement" gibt es dafür nicht.