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"SPD will aus großer Koalition aussteigen"

Von Klaus Huhold

Politik

Deutschlands Sozialdemokraten rücken nach links und setzen die Koalition aufs Spiel.


"Wiener Zeitung": "Wir lassen Hartz IV hinter uns", hat die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles verkündet. Damit einher gehen schon seit Wochen sozialpolitische Ankündigungen wie ein höherer Mindestlohn, eine höhere Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld, höhere Steuern für Wohlhabende oder die Einführung einer Grundrente für Geringverdiener. Positioniert sich die SPD hier nun wieder stärker als linke Volkspartei?

Oskar Niedermayer: Das ist alles Teil einer Offensive der SPD, um sich im ökonomischen Bereich linker zu positionieren und nach außen hin wieder stärker ihre traditionelle Identität zu betonen. Nach innen ist die Abschaffung von Hartz IV der Versuch, die Partei von ihrem Trauma zu heilen, das sie seit diesen Reformen von Gerhard Schröder hat. Es ist für die SPD durchaus sinnvoll, dass sie mit dieser Geschichte einmal abschließt, nicht permanent rückwärtsgewandt diskutiert, sondern nach vorne schaut.

Aber inwieweit kann sie diese Ankündigungen in der derzeitigen Koalition mit der Union überhaupt realisieren?

Es ist eindeutig, und das weiß die SPD-Führung auch, dass alle ihre jetzigen Vorschläge mit dem Koalitionsvertrag nicht vereinbart sind. Es ist zwar eine Grundrente vereinbart, die schaut aber ganz anders aus als das, was Arbeitsminister Hubertus Heil nun vorschlägt. Ein anderes Beispiel: Es ist im Koalitionsvertrag paktiert, dass es keine Steuererhöhungen geben wird. Alles, was die SPD nun vorschlägt, widerspricht dem Koalitionsvertrag.

Warum macht sie dann diese Vorschläge?Ich denke, dahinter steckt die Motivation, dass die SPD aus der Großen Koalition aussteigen möchte. Dabei möchte sie aber der Union den Schwarzen Peter zuschieben, indem sie diese als Blockierer darstellt. Der linke Flügel war von Anfang an dagegen, dass die SPD in diese Koalition geht, und fordert schon lange den Ausstieg. Und es gibt ja auch ein institutionalisiertes Ausstiegsmoment, wenn im Herbst diesen Jahres die Revision ansteht (bei der die Große Koalition evaluiert wird; Anm.). Spätestens dann werden die Stimmen nach einem Ausstieg aus der Koalition wieder lauter werden. Bisher hat sich die SPD-Führung dagegen mit dem Argument gesperrt, dass die SPD in ein großes Loch fallen würde, wenn es Neuwahlen gibt. Anscheinend sieht man das nicht mehr so dramatisch. Erstens ist es überhaupt nicht klar, dass es zu Neuwahlen kommen würde, es könnte auch eine Jamaika-Koalition (Union, Grüne und FDP, Anm.) oder eine Minderheitsregierung der Union geben - wobei ich zweiteres für sehr unwahrscheinlich halte. Wenn es aber zu Neuwahlen kommt, rechnet sich die SPD nun größere Chancen aus. Aber das steht auf wackligen Füßen.

Nun befindet sich auch die Union in einem Selbstfindungsprozess und diskutiert in Werkstattgesprächen ihre Flüchtlingspolitik. Könnte sich hier auch die Union von der SPD entfernen?

Wir haben, wie auch in anderen europäischen Ländern, zwei große Konfliktlinien in Deutschland: Das eine ist die ökonomische Konfliktlinie, der Konflikt um den Sozialstaat, in dem es um Konzepte zur sozialen Gerechtigkeit und zu der Marktfreiheit geht. Hier ist die SPD nun nach links gegangen. Die CDU ist in dieser Frage noch nicht so entschieden, sie pocht vorerst auf die Einhaltung des Koalitionsvertrages. Die andere Konfliktlinie ist eine gesellschaftspolitische. Hier geht es um Wertorientierungen: Linksliberal, multikulturell versus konservativ bis hin zu autoritär. Diese Debatte steht seit der Flüchtlingspolitik 2015 sehr stark im Vordergrund. Die CDU versucht dabei, Kritik an Angela Merkel zu vermeiden. Gleichzeitig gibt es eine Reihe an Vorschlägen, die man durchaus als kritischere Haltung zur Flüchtlingsfrage ansehen kann. Wenn hier nun die Union gesellschaftspolitisch konservativer wird, stellt sich für die SPD die Frage, wie sie darauf reagiert. Und das ist für sie nicht so einfach zu beantworten wie die ökonomische Positionierung.

Warum? Was ist das Dilemma für die Sozialdemokraten?

Die SPD-Funktionärs- und Führungsschicht versteht unter links im gesellschaftspolitischen Bereich die linksliberalen, multikulturellen Solidaritätsorientierungen. Damit stößt sie aber bei einem großen Teil der traditionellen SPD-Klientel auf Unverständnis. Deshalb lauert hier eine Gefahr für die SPD: Ihre Probleme sind nicht alleine durch Erhöhung der Sozialleistungen zu lösen. Wenn sie sich in der gesellschaftspolitischen Positionierung gegen die Union stellt, könnte sich ein großer Teil der eigenen Klientel von der SPD abwenden. Nicht nur die Union hat in der Vergangenheit Wähler an die AfD verloren, sondern auch die SPD und im noch stärkeren Maße die Linkspartei. Die AfD ist bei der Bundestagswahl bei der Arbeiterschaft zur stärksten Partei geworden.

Aber sitzt die SPD, die bei Umfragen nicht einmal mehr auf 20 Prozent Zustimmung kommt, hier nicht zwischen allen Stühlen? Denn linksliberale Wähler entschieden sich wiederum gleich für die Grünen.

Ja, und sie versucht, das derzeit über die ökonomische Frage zu lösen. Das ist auch erfolgsversprechender als über die gesellschaftspolitischen Debatten. Aber sie wird nicht umhin kommen, sich auch in diesem Bereich zu positionieren, wenn die Union hier nun Vorschläge macht.

Aber hat die SPD überhaupt Alternativen zur Großen Koalition?

Bei einer Jamaika-Koalition kann sie als kleine Partei in der Opposition verbleiben. Und bei Neuwahlen ist derzeit eine realistische Chance, die Macht zu ergreifen, nicht vorhanden. Rot-Grün wäre dann Grün-Rot, aber dafür würde es nach heutigen Gesichtspunkten rechnerisch nicht reichen. Und für Rot-Rot-Grün sehe ich im Bund derzeit auch keine Perspektive, weil eine Koalition mit der Linkspartei für die anderen beiden Parteien nicht möglich ist.

Mit der AfD und der Linken gibt es im deutschen Bundestag zwei Parteien, mit denen niemand koalieren will, die aber fast ein Viertel der Sitze besetzen und in der Zukunft noch stärker werden könnten. Läuft das nicht auf ein Szenario hinaus, dass es doch ständig zur - ungeliebten - Großen Koalition kommt, weil andere Konstellationen nicht mehr möglich sind?

Blicken wir auf die Umfragen, hält die SPD ja zeitweise bei um die 15 und die Union bei unter 30 Prozent. Sogar eine Große Koalition ist rechnerisch nicht mehr gewährleistet.

Oskar Niedermayer ist einer der renommiertesten Parteienforscher Deutschlands und emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Er leitete von 1993 bis 2017 das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin.