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"Wer Angst vor Europa hat, soll rausgehen"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Daniel Cohn-Bendit, 68er-Ikone und Urgestein der Grünen, sieht Europa an einer historischen Wegscheide angelangt.


"Wiener Zeitung:" In knapp drei Monaten sind Europawahlen. Am stärksten hinzugewinnen werden dabei wohl dezidiert europakritische Parteien. Was fühlt jemand, dessen Herz so stark für Europa schlägt wie Ihres, dabei?

Daniel Cohn-Bendit: Zuerst einmal würde ich mit diesen Aussagen vorsichtig sein. In Italien etwa werden europakritische Parteien zwar gewinnen, im Endeffekt werden die Pro-Europäer von links bis Mitte-rechts im Europa-Parlament aber eher 500 Sitze haben und die Europakritiker 250 Sitze. Sie werden dazugewinnen, aber die Pro-Europäer in der Mitte werden das auch tun. Es wird sich am grundlegenden Kräfteverhältnis im EU-Parlament also nichts ändern. Sicherlich kann man die Sache so sehen, wie Sie es gesagt haben. Aber man kann auch sehen, dass der Brexit selbst den Europakritischsten zeigt, wohin die Reise gehen könnte. Deswegen fordert hier auch niemand mehr, aus dem Euro oder aus der EU auszutreten. Die Europa-Skeptiker sagen, sie wollen die Kontrolle über die EU übernehmen - aber das ist ein großes Wort für wenig Inhalt. Denn wenn sie den Euro behalten wollen, können sie nicht einfach einen losen Verband eines Europa der Nationen haben. Sie können nicht eine gemeinsame Währung haben ohne eine gemeinsame und austarierte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deswegen würde ich sagen, man muss vorsichtig sein und zwischen ideologischer Rhetorik und der Realität unterscheiden.

Beim letzten Mal ist mit Jean-Claude Juncker der Spitzkandidat der siegreichen Parteienfamilie erstmals auch Kommissionspräsident geworden. Die Regierungschefs sind mit dem Spitzenkandidaten-Prinzip aber nur bedingt glücklich und würden lieber selbst bestimmen, wer den wichtigsten Job in Europa bekommt. Werden wir da eine Art Konter-Revolution erleben?

Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, muss ja erst einmal eine Mehrheit im Parlament finden, denn die hat er nicht. Und ich glaube, die Achillesferse von Weber ist, dass ein Kommissionspräsident, der sich so opportunistisch gegenüber Polen und vor allem Ungarn gezeigt hat, für viele Abgeordnete nicht tragbar ist. Weber kann zwar behaupten, er hätte auch für die Sanktionen gestimmt, aber solange die Fidesz von Ungarns Premier Viktor Orban noch Mitglied der EVP ist, ist das alles verlogen. Deswegen wird der Kommissionspräsident ein Kompromiss sein müssen. Es ist in diesem Zusammenhang auch sehr interessant, dass Joseph Daul, der EVP-Vorsitzende, gesagt hat, Manfred Weber sei der erste Vorschlag. Wenn sich zeigt, dass Weber keine Mehrheit im Parlament hat, wird etwa Michel Barnier ins Spiel kommen, der sich ja als Brexit-Chefverhandler bei vielen Respekt verdient hat.

Mit dem vor einigen Wochen unterzeichneten Vertrag von Aachen haben Deutschland und Frankreich den Elysee-Vertrag auf neue Beine gestellt. Die deutsch-französische Achse will künftig noch stärker vorangehen. Ist das gut für Europa? Manche kleineren Staaten fürchten ja, von der deutsch-französischen Dominanz erdrückt zu werden.

Ich finde, man muss aufhören, immer aufs Neue zu jammern. Jeder weiß, dass es dieses Europa ohne Deutschland und Frankreich nicht geben würde. Jeder weiß, dass ein Vorankommen, ohne dass Deutschland und Frankreich gemeinsam ein Projekt tragen, unmöglich ist. Wenn Malta und Dänemark sich auf etwas einigen, dann ist das wichtig und gut, aber die Realisierungsmöglichkeiten sind schwach. Und wenn wir angesichts der Globalisierung und dessen, was die Amerikaner, die Chinesen und die Russen treiben, nicht verstehen, dass wir mehr Europa brauchen, dann braucht man gar nicht mehr weiter zu diskutieren. Und für mehr Europa brauchen wir Deutschland und Frankreich. Immer diese Angst. Wer Angst vor Europa hat, soll rausgehen.

Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den Sie ja sehr gut kennen, ist der Aachener Vertrag aber nur ein Puzzlestein zu einem weiter vertieften Europa. Macron will ja viel mehr, etwa ein eigenes substanzielles Budget für die Eurozone oder eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Deutschland hat ihn aber bei vielen Dingen an der ausgestreckten Hand verhungern lassen. Welche Folgen hat das?

Richtig, das ist ein Problem, dass die Franzosen mit dem Vertrag von Aachen zu überbrücken versuchen. Aber die Deutschen müssen sich etwas überlegen. Sie müssen sich klar werden, was sie in Zukunft wollen. Man sieht ja etwa an der katastrophalen Situation der Bundeswehr, dass wir angesichts der Herausforderungen national nicht mehr weiterkommen. Und deswegen wird das in den nächsten Jahren auch ein entscheidender Punkt in der innerdeutschen Politik sein. Es kann nicht so weitergehen.

Warum unterstützen Sie als Grüner Macron bei den Europawahlen?

Macron ist der einzige Staatschef, der eine Vision von Europa hat, die über das Klein-Klein hinausgeht. Und ich finde, wir sind an einem historischen Moment angelangt, wo für mich das Entscheidende ist, wie es mit Europa weitergeht. Ich gebe aber zu, dass ich schizophren bin. In Deutschland unterstütze ich die Grünen, in Frankreich Macron.

Wohin soll es denn Ihrer Meinung nach mit Europa gehen ?

Es geht um das, was Macron die europäische Souveränität nennt. Also ein Europa, das in der Lage ist, beim Klimawandel, in der Sicherheitspolitik und bei der Regulierung der Globalisierung Antworten zu finden und diese voranzutreiben. Diese souveräne Handlungsfähigkeit zu gewinnen, das ist das Entscheidende für die nächsten Jahre. Zweitens geht es um ein Europa, das eine ganz andere Sicherheit bietet und in Krisensituationen handeln kann. Dafür genügt der europäische Haushalt aber nicht. Ein Staat ist ja dafür da, Unwuchten auszugleichen, und für Europa gilt genau das Gleiche. Aber um die Unwucht in Europa auszugleichen, braucht man einen Haushalt. Der föderale Haushalt der USA beträgt 27 Prozent des Bruttoninlandsprodukts. In Europa ist es ein Prozent. Das funktioniert nicht. Die Zukunft Europas - mehr soziale Sicherheit, aber auch mehr Investitionsmöglichkeiten - hängt von unserem Selbstverständnis eines souveränen Europas ab und dazu gehört ein entsprechender Haushalt. Und am Ende der Geschichte - in fünf oder zehn Jahren - wird diese europäische Souveränität auch verfassungsmäßig definiert sein müssen. Wir werden also in den nächsten Jahren die Verfassungsdebatte wieder aufgreifen.

Wegen des Gelbwesten-Protests hat Macron derzeit aber wohl ohnehin größere Sorgen als Europa. Wird es dem Präsidenten gelingen, die Situation hier wieder zu befrieden?

Er wird in jedem Fall Antworten finden müssen, die Gelbwesten sind ja Ausdruck einer real existierenden sozialen Krise. Da hat Macron mit einem Unterstützungsplan von 10 Milliarden Euro einmal eine unmittelbare Antwort gegeben, aber er wird auch noch in der Organisation des französischen Staats Antworten geben müssen. Nur darf man dabei keinen Fehler machen. Es gibt soziale Krisen, die real sind, die aber nicht progressiv nach vorn weisen, sondern ganz regressive Elemente haben. 1933 gab es in Deutschland und auch in Österreich eine reale Krise, aber das Ergebnis war nicht ein besseres Deutschland oder ein besseres Österreich, sondern wir haben gesehen, wo die Entwicklungen danach hingeführt haben.

Für die Grünen sieht es ja vor allem in Deutschland nicht schlecht aus. Dort kratzt man in den Umfragen immer wieder an den 20 Prozent. Was ist die Ursache für diesen kometenhaften Ausstieg?

Die deutschen Grünen haben es sehr gut geschafft, ein politisches Selbstverständnis, nämlich die ökologisch-soziale Reform Deutschlands, mit einem hohen Grad an politischer Handlungsfähigkeit zu verbinden. Sie sind bereit, nach Wahlen Verantwortung zu tragen, um ihr Projekt voranzubringen, zugleich ist ihnen klar, dass das mehrheitsabhängig ist. Im Norden arbeitet man daher mit CDU und FDP zusammen, in Thüringen mit der SPD und der Linken. Diese Politikfähigkeit gepaart mit zwei herausragenden Persönlichkeiten an der Spitze, Annalena Baerbock und Robert Habeck, war ein gutes Gemisch zu einer Zeit, in der in Deutschland politische Handlungsunfähigkeit an der Tagesordnung war.

In Deutschland sind die Grünen extrem erfolgreich, in Österreich kämpfen sie dagegen ums Überleben. Wie geht das?

Ich bin ja nicht der Schulmeister, aber ich glaube, dass die österreichischen Grünen zwei Fehler gemacht haben. Zum einem haben die Persönlichkeiten an der Spitze nicht die Fähigkeit an den Tag gelegt, diese Herausforderung so anzunehmen, dass man ihnen glaubt, sie können das. Dann waren da diese irrsinnigen Spaltungen, erst ist Voggenhuber gegangen, dann Pilz. Das sind alles Ego-Trips, und es hat gezeigt, dass die Grünen nicht in der Lage sind, herausragende Persönlichkeiten wie Pilz und Voggenhuber zu integrieren. Da haben sie in einer Zeit verloren, in der sie mit der Wahl von Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidenten fast schon gewonnen hatten.

Daniel Cohn-Bendit gilt als eine der Ikone der 68er-Bewegung. Als 23-Jähriger zählte er im Mai 1968 zu den Anführern der historischen Studentenproteste in Paris. Aus "Dany le Rouge", also dem roten Dany, wurde knapp ein Jahrzehnt später jedoch ein Grüner. Ab 1978 engagierte sich Cohn-Bendit sowohl in Deutschland als auch in Frankreich bei der Ökopartei, von 1994 bis 2014 saß der als Realo geltende Deutsch-Franzose für beide Länder abwechselnd als grüner Abgeordneter im EU-Parlament. Ab 2002 war der heute 73-Jährige dort auch Co-Vorsitzender der Fraktion der Grünen.