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Der Tod der spanischen Dörfer

Von WZ-Korrespondentin Maren Häußermann

Politik

Nur noch wenige Ärzte und Apotheker, eine schlechte Verkehrsanbindung und die immer stärkere Abwanderung in die Großstädte machen Soria, Spaniens entvölkertster Region, zu schaffen. Jetzt begehren die Menschen in der Provinz auf.


Soria/Madrid. Sie stürmen die Raststätte. Zwei überrumpelte Kellner schenken Kaffee mit Milch aus und bereiten pan con tomate zu - das traditionelle spanische Toastbrot mit Tomaten. Die Kloschlange zieht sich über zwei Stockwerke. Reisebusse bringen Spanier in weißen T-Shirts mit der Aufschrift "Soria¡YA!", auf Deutsch: "Soria jetzt!". Mütter sind darunter, Väter, Kinder, Großeltern. Sie reden, lachen, drängeln. Ein Ruf von draußen beendet die Heiterkeit - die Gruppe muss zurück in den Bus. Weiter geht es nach Madrid zur Demonstration, um den Rest des Landes auf ein ernstes Thema aufmerksam zu machen: ihre Existenz.

90 Prozent der spanischen Bevölkerung leben in nur 30 Prozent des Landes, vor allem in den Großstädten Madrid und Barcelona. In der Provinz Soria, die in Kastilien und León liegt, leben dagegen nur knapp 89.000 Einwohner - und das auf einer Fläche, die etwas größer als Kärnten ist. Die Bürgerinitiative "Soria¡YA!" warnt davor, dass ihre Provinz ausstirbt. Deswegen hat sie 64 Busse und 165 Zugtickets organisiert und die Menschen ihrer Heimatprovinz mobilisiert. Gemeinsam sind sie zu Beginn des Monats in die Hauptstadt gefahren, um dort laut zu sein, um aufzufallen und beachtet zu werden.

"Ich musste für meine Krebsbehandlung jeden Tag eineinhalb Stunden nach Burgos fahren", erzählt Loli während der Busfahrt. Die Sorianer haben Angst. Etwa davor, dass ihre Gesundheitsversorgung weiter eingeschränkt wird, weil sie zu wenige sind. Schon jetzt gibt es in der gleichnamigen Provinzhauptstadt keinen Kinderarzt mehr und zu wenige Anästhesisten.

Letztes Jahr hat im Bergdorf Villar del Rio die Apotheke zugemacht. Die nächste ist über 30 Kilometer entfernt. Loli trägt kein "Soria¡YA!"-T-Shirt, weil sie es nicht schön findet, dafür aber eine weiße Bluse. Weiß bedeutet Leere, damit wollen die Sorianer auf ihre besonders schlechte Situation aufmerksam machen. In keiner Provinz Spaniens leben weniger Menschen und auch im europäischen Vergleich ist Soria am wenigsten bevölkert.

Rathaus und Lokalregierung haben mit je 3000 Euro sechs Busse finanziert, mehr als 80 Unternehmen haben den Rest bezahlt und auch ein Frühstück bereitgestellt: einen Becher Milch, dazu Kaffeepulver und ein Butterbrot. In der Morgendämmerung landet bei der Abfahrt ein Storch auf einer Tanne, darunter sammeln sich die Menschen mit Schildern, Trommeln und Kindern auf dem Arm. Jeder hat ein Ticket mit Busnummer und Sitzplatz. In jedem Bus gibt es Wasser, Luftballons und Aufkleber.

"Wir schmeißen euch raus"

33.000 Menschen leben in der Stadt Soria. Sie sehen sich von der Politik ignoriert, weil ihre Region aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte bei Wahlen nicht allzu wichtig ist. Nur zwei Abgeordnete für das Nationalparlament kommen aus der Provinz Soria. Einer davon gehört traditionsgemäß der konservative Partido Popular (PP) an und der andere der sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE). Die sehr jungen Parteien Ciudadanos (liberal) und Podemos (links) hatten 2016 noch keine Chance.

Wenn am 28. April gewählt wird, ändert sich das vielleicht, denn die Sorianer sind wütend. "Vamos a votar, con B no con V", ruft María, was sinngemäß in etwa heißt: Wir werden euch bei den Wahlen rausschmeißen. Auf Spanisch wird V wie B ausgesprochen. Votar - wählen, botar - rausschmeißen.

In Soria fehlt es an vielem. Es fährt nur ein Zug am Tag und der nur nach Madrid, genauso wie es nur eine Autobahn gibt, auch nur nach Madrid und auch erst seit drei Jahren. Der 39-jährige César Benito erzählt, dass er nach einem Autounfall mit einem Reh eine Stunde auf die Polizei warten musste, weil in der Provinz zu wenige Streifen unterwegs sind - und das bei einer Wildtierunfallquote von durchschnittlich 3,5 Unfällen pro Tag. Dass diese so hoch ist, liegt daran, dass viele Bundesstraßen durch die Felder führen.

Immer wieder Stromausfälle

An eben so einer Bundesstraße zwischen Soria und der nächstgrößeren Stadt Burgos wohnt der 42-jährige Javier Arribas in einem Steinhaus. Er ist Künstler, hat Ausstellungen in Madrid, Barcelona und Salamanca und unterrichtet an der Universität. Aber leben will er am Land. "Hier habe ich keine Ablenkung", sagt er. Seine drei Töchter wohnen mit der Mutter in der Stadt Soria, er selbst in einem umgebauten Stall. Drinnen knackt der Kamin, draußen gackern die Hühner. Er versucht sich als Selbstversorger, denn auf ein Versorgungsnetz kann er sich nicht verlassen.

Immer wieder gibt es kurze Stromausfälle, die nicht nur das Licht, sondern auch die Arbeit am Computer unterbrechen und schlimmstenfalls zurücksetzen. Die Digitalisierung hat ihm das Landleben wieder ermöglicht, aber die Politik steht der Entwicklung im Weg. So muss Arribas auch das teuerste Paket für Internet und Telefon zahlen, denn in der Region gibt es keinen zweiten Anbieter und damit quasi ein Monopol. Unternehmen kommen nicht nach Soria, weil es nicht nur eine schlechte Infrastruktur, sondern auch keine Arbeitssuchenden gibt. Die Leute suchen erst gar nicht nach Jobs, sie gehen einfach. Es ist ein Teufelskreis.

Das Problem ist, dass die Gelder nicht in Soria ankommen, wie Marian Fernandez Vicente von der Föderation der Wirtschaftsverbände in Soria sagt. Spanien hat seit seinem EU-Beitritt in den 1980er Jahren viele Gelder aus EU-Fonds bekommen. In abgelegenen Gegenden wie der Provinz Soria ist freilich kaum etwas davon angekommen. "Die Fonds waren für Infrastrukturprojekte gedacht. In Soria warten wir aber seit 30 Jahren auf die Fertigstellung einer Autobahn und den Anschluss ans Zugnetz", erklärt sie. Auch aus dem nationalen Kompensationsfonds hat Soria nur 0,7 Prozent abbekommen.

Mercedes Molina, Professorin für Humangeografie an der Universität Complutense in Madrid, erklärt das mit unreflektierter Politik: "Die Verantwortlichen investieren dort, wo das Bruttoinlandsprodukt und das Pro-Kopf-Einkommen am größten ist - in den Industriezentren um die Großstädte." Für die ländlichen Gegenden heißt das: keine Investitionen, keine Infrastruktur, keine Unternehmen, keine Arbeitsplätze, keine jungen Menschen, keine Menschen. Auf der anderen Seite ist diese Politik für die Städte ebenso problematisch. Molina spricht von der hohen Luftverschmutzung, den Spekulationen am Wohnungsmarkt, aber auch von der Vereinsamung der Großstädter.

Dennoch Rückkehr aufs Land

Genau aus diesen Gründen ist die 31-jährige Miriam Andres nach Soria zurückgekehrt. Sie hat in Madrid historische Archäologie studiert und in Salamanca gearbeitet. "Aber am Land kann ich atmen, hier kann ich mit der Familie zu Mittag essen und habe mehr Zeit zum Leben", sagt sie. "Meinen Freund habe ich in Madrid kaum gesehen, obwohl wir zusammengewohnt haben." In Soria trifft man sich in Buchclubs oder in Bars. Kinder spielen Fangen zwischen den Beinen der Erwachsenen, im Hintergrund läuft ein Fernseher. Man trinkt Wein im Stehen und isst Tapas.

Als die ehemaligen Sprecher von "Soria¡YA!" in einer Zeitungsanzeige Nachfolger suchten, entschied sich Andres, für die seit 18 Jahren bestehende Plattform aktiv zu werden. "Wenn ich es nicht mache, wer dann?", fragt die angehende Professorin. Für ihren Aufstand haben sich die Veranstalter diesen Moment ausgesucht, weil das Problem der Entvölkerung gerade in ganz Europa aufkommt.

Nach der Demonstration sagen sie, dass aus Soria zwischen 15.000 und 20.000 Leute in Madrid waren, was der Hälfte beziehungsweise zwei Dritteln der Stadt Soria entspricht. Sie sagen aber auch, dass insgesamt 100.000 Leute aus ganz Spanien da waren, während die Polizei in Madrid von der Hälfte ausgeht.