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Der Staatschef als Herausforderer

Von Gerhard Lechner

Politik

Der ukrainische Präsident Poroschenko liegt vor der entscheidenden Stichwahl am Sonntag weit hinter seinem Rivalen Selenskyj. Im Endspurt setzt er auf Polarisierung - und hofft auf einen Umschwung im letzten Moment.


Kiew. Der Präsidentschaftskandidat ist ein ganz gewöhnlicher Mann. Ein sympathischer, bei seinen Schülern beliebter Geschichtslehrer, der nach seiner Scheidung aufgrund finanzieller Probleme wieder in den schäbigen, aber heimeligen Plattenbau seiner Eltern gezogen ist. Eines Morgens, an einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag, steht plötzlich, während der Lehrer noch im Unterhemd auf der Toilette sitzt, der Premierminister vor der Tür. Dessen Botschaft: "Guten Morgen, Herr Präsident!" Die Überraschung ist perfekt.

Wenn am (katholischen) Ostersonntag Wolodymyr Selenskyj, der Mann, der in der TV-Serie "Diener des Volkes" den Geschichtslehrer spielt, tatsächlich zum Präsidenten der Ukraine gewählt wird, dürfte sich die Überraschung hingegen in Grenzen halten. Der 41-jährige Comedian Selenskyj geht als haushoher Favorit in die Stichwahl gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko. Über 72 Prozent der Befragten wollen Selenskyj in einer neuen Umfrage ihre Stimme geben. Poroschenko liegt weit zurück, kommt nur auf 25,4 Prozent. Der enorme Abstand zwischen den Kandidaten, der sich in der letzten Woche vor der Wahl noch vergrößert hat, lässt eine erfolgreiche Aufholjagd des Amtsinhabers ziemlich illusorisch erscheinen.

Unpräsidialer Aktivismus

Um das Unmögliche doch noch möglich zu machen, gab sich Poroschenko zuletzt einem Aktivismus hin, der so gar nicht präsidial wirkte. Statt im Duell mit dem Herausforderer auf seine Stärken zu setzen, statt Berechenbarkeit, Professionalität und Beständigkeit gegen den unerfahreren und politikfernen Selenskyj ins Spiel zu bringen, ließ sich der 53-Jährige vom Herausforderer auf dessen Spielfeld, die Show, locken. Dass im Wahlkampf für die Stichwahl kaum je über Politik diskutiert wurde, sondern darüber, wo und ob überhaupt ein TV-Duell beider Kandidaten stattfinden kann, welcher Kandidat körperlich besser geeignet fürs höchste Amt im Staate ist und derlei mehr, schadete vor allem Poroschenko. Der Präsident kam - zumindest bis Freitagabend, dem Zeitpunkt des einzigen TV-Duells, das im Olympiastadion von Kiew stattfand - nicht dazu, Selenskyjs inhaltliche Schwächen aufzudecken. Stattdessen unterstellte Poroschenko dem russischsprachigen Selenskyj, der wie viele Ukrainer das Ukrainische erst spät lernte, ein Kandidat des Kremls zu sein.

Selenskyj vermeidet Konkretes

Das mag vielleicht im ehemals zur österreichischen Monarchie gehörenden Galizien, einem Teil der Westukraine, gut ankommen - dort konnte Poroschenko auch im ersten Wahlgang eine Mehrheit holen. Aber freilich nur dort. Im gemischtsprachigen Rest des Landes polarisiert so ein Kurs - und hilft damit dem Gegenkandidaten. Während sich der Herausforderer Selenskyj in diesem Wahlkampf als Einiger der Ukraine präsentierte, als über den Dingen stehender Kämpfer gegen die Korruption, als ausdrücklich alle Ukrainer ansprechend, kurz: als präsidial, setzte Poroschenko in seinem Wahlkampf auf Zuspitzung und Spaltung - ganz wie es gewöhnlich ein Herausforderer tut. Dazu kam noch, dass der eher steife Profipolitiker und Geschäftsmann versuchte, so lustig und locker zu erscheinen wie sein jugendlich wirkender Konkurrent - ein Unterfangen, das scheitern musste. Ein amtierender Präsident, der in ein TV-Studio stürmt, dessen Sender Selenskyj nahe steht, und darin den Gegenkandidaten zum Duell auffordert, wirkte vor allem lächerlich.

Selenskyj hingegen gelang es weitgehend, konkrete Aussagen vor dem Stichwahltermin zu vermeiden. Das war für ihn wichtig, um nicht einen Teil seiner Wähler zu vergraulen. So ist etwa der Anteil der Selenskyj-Wähler, die einen Nato-Beitritt der Ukraine bevorzugen, und der Anteil, der eine neutrale Ukraine will, in etwa gleich groß. Auch in innenpolitischen Sachfragen gibt es große Unterschiede, weshalb Selenskyj auch auf Show statt Politik setzte.

Wer ist dieser Wolodymyr Selenskyj eigentlich? 1978 kam er als Sohn jüdischer Eltern in Krivyj Rih im Gebiet von Dnipropetrowsk zur Welt. Sein Vater war Kybernetik-Professor, seine Mutter Ingenieurin. Selenskyj absolvierte nach der Matura ein Jusstudium, hielt sich aber nicht lange mit trockener Materie auf: Der kleinwüchsige Sympathieträger mit dem verschmitzten Lächeln ging in die Showbranche, wurde mit seiner Kabarettsendung "Quartal 95" nicht nur landesweit, sondern in der ganzen russischsprachigen Welt bekannt, baute sich ein eigenes Unterhaltungsimperium auf. Von dem mittellosen Geschichtslehrer, den er in seiner TV-Serie verkörpert, ist Selenskyj weit entfernt. Er besitzt eine ganze Reihe von Luxuswohnungen und kann von seinem - überaus professionell gemachten - Unterhaltungsbusiness mehr als gut leben.

Ein klassischer Oligarch ist er allerdings nicht. Sein Geld hat er sich auf legalem Weg selbst verdient - was auch ein Grund für den Zuspruch sein mag, den Selenskyj bekommt. Denn die Männer und Frauen, die die Politik der Ukraine bisher bestimmten, hatten ihren oft immensen Reichtum meist in den 1990er Jahren erworben. Die Karriere der ehemaligen Jungkommunistin Julia Timoschenko, die im Erdgasbusiness zu Geld und damit auch zu Macht kam, steht hier stellvertretend für viele ukrainische Politiker und Oligarchen. Selenskyjs TV-Serie karikiert die Machenschaften, Winkelzüge und Doppelbödigkeiten dieser "Elite" oft sehr treffend - und traf damit einen Nerv bei vielen Ukrainern.

Absturzgefahr für Politstar hoch

Zwar glauben nur wenige, dass sich Selenskyj als Staatschef so verhalten wird wie als TV-Präsident. Die meisten Ukrainer sind desillusioniert und sehen in ihm nur das geringere Übel. Eine Stimme für Selenskyj ist auch eine Proteststimme gegen das oligarchische System - obwohl Selenskyj selbst mit dem Oligarchen Ihor Kolomojski, einem Feind Poroschenkos, zusammenarbeitet: Der TV-Sender, in dem seine Shows laufen, gehört Kolomojski.

Wird nach einem möglichen Sieg Selenskyjs also alles weitergehen wie bisher? Wäre ein Sieg Selenskyjs eigentlich ein Triumph Kolomojskis? Dagegen spricht, dass der Komiker genau weiß, dass die Öffentlichkeit diesbezügliche Schritte des Präsidenten mit Argusaugen verfolgen würde. Der neue ukrainische Politstar könnte mit einer Bevorzugung Kolomojskis auch wieder rasch verglühen.

Darauf, dass sich Selenskyjs Polit-Karriere letztlich als Sternschnuppe erweisen wird, hofft auch Poroschenko. Wenn sich der Rückstand des Präsidenten bei der Stichwahl am Sonntag in Grenzen hält, wird er, sagen Beobachter, weiter in der ukrainischen Politik bleiben – und seinen Nachfolger bereits bei der Parlamentswahl im Herbst herausfordern. Und wenn Poroschenko mit seinem Auftritt beim TV-Duell am Freitagabend im Olympiastadion, das wie ein Showdown zweier Gladiatoren wirkte, das Ruder doch noch zu seinen Gunsten herumgerissen haben sollte? Wenn die recht souveräne Performance des amtierenden Präsidenten, der im Gegensatz zum Polit-Neuling Selenskyj nie auf einen Zettel blicken musste, Wirkung zeigen sollte? Wenn also Poroschenko die Wahl tatsächlich noch gewinnt? Dann hätte er auf den letzten Metern ein veritables Polit-Wunder vollbracht.