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Neue Gesichter, alte Ziele

Von Siobhán Geets

Politik

Die "New IRA" hat sich zur Ermordung einer jungen Journalistin im nordirischen Derry bekannt. Die junge IRA-Splittergruppe verliert durch die Tat Unterstützer, doch der Brexit könnte den Gruppen wieder Zulauf verschaffen.


Derry/Wien. Momente vor ihrem Tod steht Lyra McKee mit anderen neben einem Polizeiwagen. Auf den Bildern einer Überwachungskamera ist zu sehen, wie sie ihr Handy hochhält, um Fotos zu machen. In der Nähe brennt ein Auto, die Flammen färben die Szenerie rot. Eine Gestalt tritt hinter einer Hausecke hervor, dunkel gekleidet, schwarze Sturmhaube, in der Hand eine Schusswaffe. Wenige Augenblicke später ist die 29-Jährige tot, eine Kugel hat sie in den Kopf getroffen.

Die Journalistin war am Donnerstag in die Siedlung Creggan ins nordirische Derry gekommen, um über die Ausschreitungen zu berichten. Polizisten hatten Häuser nach Waffen durchsucht, daraufhin warfen aufgebrachte Anrainer Brandsätze auf sie. "Derry heute Nacht - absoluter Wahnsinn", schrieb McKee auf Twitter.

Am Dienstag bekannte sich die paramilitärische Gruppe "New IRA" zu der Tat, wenig später nahm die Polizei eine verdächtige 57-Jährige fest. Den Tod McKees bezeichnet die "New IRA" als Versehen. Die Reporterin sei "tragischerweise getötet" worden, als sie an der Seite "feindlicher Kräfte" gestanden sei, heißt es in einer Erklärung der Splittergruppe. Die Angehörigen der jungen Frau bat sie "aufrichtig um Entschuldigung". Eigentlich, so viel ist klar, hätte die Kugel einen Polizisten treffen sollen.

Der Tod der Journalistin weckt düstere Erinnerungen. Mehr als 3500 Menschenleben forderte der Nordirlandkonflikt zwischen 1969 und 1998. Das Karfreitagsabkommen brachte Frieden, die Paramilitärs gaben nach und nach die Waffen ab, doch zahlreiche IRA-Splittergruppen existieren bis heute. Für sie ist der Kampf nicht zu Ende, Terrorgruppen wie die "New IRA" verfolgen das alte Ziel: ein vereintes Irland und den Abzug der Briten aus dem "besetzten" Norden der Insel.

Blutrote Handabdrücke

Nach dem Ende der alten IRA bildeten sich neue, kleinere Einheiten, darunter Real IRA und Continuity IRA, die immer wieder auf Polizisten und Soldaten schießen und Bomben legen. Abspaltungen und Zusammenschließungen der Splittergruppen gibt es regelmäßig, was laut Emmet O’Connor an der schwachen Organisationsstruktur und den verschiedenen Fraktionen in den Gebieten liegt: "Es gibt keinen starken Anführer", sagt der Historiker von der nordirischen Ulster Universität.

Auch die "New IRA", gegründet 2012, lehnt das Karfreitagsabkommen von 1998 ab und will eine Wiedervereinigung Irlands mit Gewalt erreichen. Sie war es auch, die sich im März zu den Briefbomben bekannte, die in London und Glasgow aufgetaucht waren.

Das irische Justizministerium schätzt die Zahl jener, die die "New IRA" aktiv unterstützen, auf weniger als 200. "Im Vergleich zur Real IRA und Continuity IRA ist die New IRA neuer, ihre Mitglieder sind jünger und stärker sozialistisch geprägt", sagt O’Connor. Der Wissenschafter geht von rund 50 Kämpfern aus. Öffentlich vertreten werden sie von der Kleinpartei Saoradh. Auf ihrer Homepage verteidigt Saoradh die Taten der "republikanischen Freiwilligen", die am Donnerstag lediglich versucht hätten, die Menschen vor der Polizei zu schützen. Der Tod der jungen Journalistin sei "herzzerreißend", doch die Schuld daran liege ausschließlich bei den "Streitkräften des Vereinigten Königreichs". Die Hinterbliebenen McKees sehen das anders. Sie hinterließen am Montag blutrote Handabdrücke auf dem Parteibüro von Soaradh in Derry.

Mit dem Tod der jungen Frau wird sich die Akzeptanz der Terrororganisationen in der Bevölkerung noch einmal verringern. "Nicht in unserem Namen. RIP Lyra", steht nun auf einer Hauswand unter dem alten Slogan "Sie betreten jetzt das freie Derry". "Der Tod von Zivilisten ist immer ein Rückschlag für diese Gruppen", sagt O’Connor. Dass es nun eine junge Frau getroffen hat, zudem eine Journalistin, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzte, wiege noch schwerer: "Sie war eine Ikone für liberale Werte." O’Connor erinnert an das Attentat von Omagh 1998, das mit 29 Toten das schlimmste Attentat der IRA. "Das war das vorläufige Ende der Real IRA." Auch die New IRA werde nun verschwinden - um in ein oder zwei Jahren wieder aufzutauchen.

Nationalisten isoliert

Laut der nordirischen Polizei finanzieren sich die neuen IRA-Gruppen durch den Drogenhandel. O’Connor bezweifelt das, immerhin gingen diese Organisationen mit äußerster Gewalt gegen Drogendealer in katholischen Gebieten vor. Wahrscheinlicher sei, dass sich die Gruppen durch Überfälle und Schutzgelderpressung über Wasser halten. "Die alte IRA hatte in den 1980ern ein Budget von rund zwei Millionen Pfund im Jahr", sagt O’Connor. Doch das ist lange vorbei. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind die Überweisungen aus den USA versiegt.

Hinzu kommt, dass die IRA so infiltriert ist wie nie zuvor. Durch die Zusammenarbeit mit Spitzeln kann die Polizei die meisten Aktionen vereiteln. Auch die Hausdurchsuchungen vom Donnerstag waren die Folge eines Hinweises durch einen V-Mann. Gefunden hat die Polizei nichts. Auch die beiden jungen Männer, die am Samstag festgenommen wurden, sind wieder auf freiem Fuß.

Dass die Splittergruppen vor allem junge Mitglieder haben, liegt auch am Mangel an Perspektiven in der Region. Viele fühlen sich an den Rand gedrängt und im Stich gelassen. Kommt es nach dem Brexit wieder zu Kontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland, könnten Grenzposten ein neues Ziel darstellen. "Wenn sich die irischen Nationalisten im Norden nach dem Brexit vom Süden isoliert fühlen, kann das den Splittergruppen wieder Zulauf verschaffen", sagt O’Connor. Hinzu kommt, dass jene Nordiren, die sich als Iren und nicht als Briten fühlen, seit dem Ende der Koalition zwischen der republikanischen Sinn Féin und der unionistischen DUP keine handlungsfähige politische Vertretung mehr haben.

Dabei schreibt das Karfreitagsabkommen vor, dass sich Katholiken und Protestanten die Macht in Belfast teilen müssen. Das Abkommen sollte künftigen Generationen neue Chancen bieten. Unterzeichnet wurde es vor genau 21 Jahren, McKee war damals acht Jahre alt. Ihr Tod zeigt, dass in Nordirland von Frieden keine Rede sein kann.