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"Selenskyjs 73 Prozent könnten bald weg sein"

Von Gerhard Lechner

Politik

Der Ukraine-Experte Tornike Metreveli über die Gründe für den Wahltriumph des Komikers Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine - und darüber, dass der Schauspieler seine Wähler zwangsläufig enttäuschen muss, sobald er Politik betreibt.


"Wiener Zeitung": Der Schauspieler und Comedian Wolodymyr Selenskyj hat die ukrainischen Präsidentenwahlen gewonnen. Ein Komiker, der in einer Fernsehserie die Rolle des Präsidenten gespielt hat, wurde ukrainischer Staatschef. Wie kann das erklärt werden? War das Bild des korruptionsbekämpfenden Präsidenten Holoborodko, der von Selenskyj gespielt wurde, so stark, dass die Ukrainer dem TV-Image eher glauben wollten als der Wirklichkeit? Ist das Bild im Kopf stärker als die Realität?

Tornike Metreveli: Selenskyjs Bekanntheit und Beliebtheit hat - verbunden mit der Rolle als TV-Präsident - tatsächlich eine große Rolle gespielt. Der Hauptgrund, warum er bei dieser Wahl erfolgreich war, ist aber ein anderer: nämlich sein Anti-Establishment-Kurs. Die Ukrainer sind ihrer korrupten Elite, ihres korrupten Systems müde. Selenskyj versuchte, die unterschiedlichen Gruppen an Frustrierten anzusprechen. Er hat sich dabei nicht lange mit Sachthemen wie internationaler Politik aufgehalten. Er hat einfach ein sehr populäres Thema hergenommen, den Kampf gegen die Korruption. Und dann hat er die unterschiedlichen Gruppen an Enttäuschten bedient. Er hat bei ihnen den Eindruck erweckt, dass er einer der ihren ist. Das war letztlich entscheidend. Seine Bekanntheit hat ihm natürlich geholfen. Er musste nicht mühsam um Aufmerksamkeit kämpfen.

Kann man Selenskyj mit europäischen Protestphänomenen vergleichen - etwa mit Beppe Grillo, dem Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien?

Es gibt etwas, das Selenskyj von anderen unterscheidet, etwas, das ihn einzigartig macht. Das ist dieses Virtual-Reality-Element. Sein Sieg hat ziemlich deutlich gezeigt, dass eine neue Form von Populismus in der Lage ist, Nationalismus zu besiegen - Poroschenkos Botschaften waren ja an eine nationale Wählergruppe ausgerichtet. Selenskyjs Team hingegen ging ganz anders vor: Man hat die online stattfindenden Diskussionen der unterschiedlichen Gruppen von Frustrierten genau beobachtet. Und dann hat man deren Themen aufgegriffen. Das alles passierte vor dem Hintergrund von Selenskyjs Rolle als TV-Präsident Holoborodko. Was der echte Selenskyj will, wissen wir noch nicht wirklich. Sein Team hat er erst zwei Tage vor dem Wahltermin präsentiert. Selenskyj, der sympathisch rüberkommt, ist für die meisten seiner Wähler wohl so eine Art virtueller Freund. Niemand weiß, was er wirklich will, aber alle glauben, er vertritt ihre Interessen. Und dann ist da noch etwas: Der fundamentale Erfolg von Selenskyjs Strategie, die ja ganz auf die neuen Medien aufgebaut war, lässt wohl auch in allen postsowjetischen Staaten die Alarmglocken läuten.

Wie etwa in Russland?

Im Kreml wird Selenskyjs Sieg sicher Unruhe auslösen. Er hat gezeigt, dass er wie David mit den Mitteln moderner Kommunikation Goliath schlagen kann. Poroschenko hatte eigentlich alles auf seiner Seite: Experten, Erfahrung, Netzwerke, den Staatsapparat. Und trotzdem wurde er von Selenskyj richtiggehend deklassiert - der Abstand zwischen den beiden Kandidaten war ja enorm, der größte in einer Stichwahl seit der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991. Poroschenko hat Selenskyj ja lange unterschätzt und Timoschenko als seine Hauptgegnerin angesehen.

Selenskyj hat sich ja ganz auf einen Online-Wahlkampf konzentriert. In der Westukraine waren von ihm vor der ersten Runde der Präsidentenwahl nicht einmal Plakate, Wahlkampfstände oder Ähnliches zu sehen. Dennoch gewann er, und dann auch noch so hoch. Ist eine Internetkampagne, wie sie Selenskyj durchgezogen hat, die Zukunft des Wahlkampfs?

Ich denke, dass es vor allem um die Themen gegangen ist. Poroschenko hat seinen Fokus auf vermeintlich große, wichtige Fragen gelegt. Da ging es um die Stärke der Armee, die neue ukrainisch-orthodoxe Kirche, die ukrainische Sprache, das Gesundheitssystem und so weiter. Aber all diese großen Fragen verblassen, wenn es um die sozialen Grundbedürfnisse der Menschen geht - um genug Geld für Essen, Kleidung und das Wohnen. Ich habe mehr als hundert Interviews mit Leuten quer durch die Ukraine geführt, auch in den Dörfern. Es waren die Grundbedürfnisse, die die Menschen am meisten bewegten, nicht die großen Fragen, von denen Poroschenko geredet hat. Selenskyj hat diese Menschen angesprochen. Seine Botschaft war: Wenn es keine Korruption gibt, wird es euch besser gehen in eurem täglichen Leben. Und ich, ein Mann aus dem Volk, einer von euch, werde euch die Korruption vom Hals schaffen.

Welche Bevölkerungsgruppen stimmten für Selenskyj?

Erstens die russischsprachigen Ukrainer. Sie haben diese Debatten um Ukrainisch oder Russisch satt. Damit erreichte Selenskyj auch viele ältere, nicht sonderlich internetaffine Ukrainer, die das Russische verwenden und sich im politischen System der Ukraine unterrepräsentiert sehen. Zweitens votierten für Selenskyj die Leute, die das Establishment ablehnen. Diese Leute wollten vor allem eine Botschaft des Protests senden. Und drittens stimmten für Selenskyj noch jene, die Poroschenko hassen. Selenskyj hat diese drei Gruppen mit seinen hybriden Botschaften bis zum Wahltag bei Laune gehalten.

Und nach dem Wahltag? Nach der Angelobung? Wie will Selenskyj da sein heterogenes Elektorat weiter zusammenhalten?

Das wird tatsächlich schwierig. Der neue Präsident hat bei der Wahl einen ungeheuer hohen Vertrauensbeweis erhalten. Die 73 Prozent könnten aber auch bald wieder weg sein. Selenskyj muss sich auf eine ganze Reihe von Interessenkonflikten einstellen. Für ihn haben Leute gestimmt, die für einen Nato-Beitritt der Ukraine sind. Aber auch solche, die in der Ukraine einen neutralen Staat sehen. Und sogar Menschen, die trotz des Krieges eine Militärunion mit Russland begrüßen - auch wenn das nur 6 Prozent seines Elektorats sind. Einmal im Amt, wird sich Selenskyj entscheiden müssen, nicht nur in außenpolitischen Fragen. Er wird Politik machen müssen. Er wird damit zwangsläufig einen großen Teil seiner Wähler enttäuschen. Und die könnten dann sehr wütend werden, wenn sie sehen, dass ihre Erwartungen wieder einmal enttäuscht wurden.

Selenskyj ist auch in Russland populär. Er ist ein Fernsehstar, ein Comedian, lustig und außerdem noch Jude - damit entspricht er so gar nicht dem Bild von der "faschistischen Kiewer Junta", das russische Medien jetzt fünf Jahre lang aufgebaut haben. Muss Russland damit seine Ukraine-Strategie ändern?

Das kann schon sein. Die russischen Medien werden nun wohl abwarten müssen, welche Signale Selenskyj aussendet. Ob seine Politik für den russischen Staat irgendwie annehmbar ist. Dass der neue ukrainische Präsident positive Signale Richtung Nato und den Westen ausgesendet hat, macht die Sache für den Kreml sicherlich nicht leichter. Man wird die Marke Selenskyj in Moskau wohl "neu erfinden" müssen, sozusagen.

Selenskyjs Fernseh-Präsident Holoborodko tritt in der TV-Serie ziemlich schroff gegenüber dem IWF auf. Da benutzt der Präsident sogar derbe Schimpfwörter gegen den deutschen Verhandler. Wie wird Selenskyj mit dem Westen umgehen?

Das kommt auf sein Team an. Bis jetzt wurden erst einige Namen genannt. Manche davon sind alte Bekannte der ukrainischen Politik, ein paar seiner Mitstreiter haben in der Privatbank des Oligarchen Ihor Kolomojski gearbeitet. Noch wissen wir nicht genau, wohin die Reise geht. Selenskyj hat übrigens nicht nur die Rolle des Präsidenten in "Diener des Volkes" gespielt, er hat auch das Drehbuch der Serie verfasst. Insofern fragen sich viele, ob sich Selenskyjs Politikziele auch in der Serie widerspiegeln.

Selenskyj wird ja immer vorgeworfen, nur eine Puppe Kolomojskis zu sein. Was denken Sie darüber?

In der Debatte mit Poroschenko, in der er darauf angesprochen wurde, hat Selenskyj gesagt, niemand steht über dem Gesetz, auch Kolomojski nicht - aber das musste er natürlich auch sagen. Kolomojski und Selenskyj pflegen jedenfalls einen intensiven Kontakt miteinander. Der neugewählte Präsident ist auch mehrfach nach Israel zu Kolomojski geflogen, und der Oligarch hat Selenskyj auch bei seiner Kampagne unterstützt. Die Frage ist jetzt, ob Selenskyj als Präsident professionell handelt oder nicht - ob er in der Lage ist, seine persönlichen Verbindungen zu dem Oligarchen im Interesse des Staatsganzen hintanzustellen.

Wird sich das Verhältnis der Ukraine zur EU unter einem Präsidenten Selenskyj ändern?

Ich glaube nicht. Es wird keine allzu großen Veränderungen geben. Die Ausrichtung auf die EU hin, die etwa im visafreien Reisen in die Union zum Ausdruck kommt, ist in der ukrainischen Öffentlichkeit sehr populär. Selbst wenn Selenskyj diese Errungenschaften kappen wollte, wonach es nicht aussieht, würde das nicht funktionieren, weil es in der Öffentlichkeit für eine solche Politik keine Unterstützung gibt.