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Nach dem Sturm ist vor dem Sturm

Von Siobhán Geets

Politik

Den konservativen Tories droht bei den Kommunalwahlen am Donnerstag ein Absturz aus großer Höhe. Die britische Regierungspartei wird wohl auch bei den Europawahlen abgemahnt werden. Alles dreht sich um den Brexit.


London/Wien. Eigentlich geht es bei den britischen Kommunalwahlen nicht um die großen Dinge. Normalerweise befassen sie sich mit Umwidmungen von Land, um Schlaglöcher auf den Landstraßen und lästigen Hundekot in den Parks. Aber es ist nichts normal im Vereinigten Königreich. Seit fast drei Jahren streiten hier alle darüber, wie der Brexit aussehen soll: Premierministerin Theresa May mit ihren eigenen konservativen Tories, die Tories mit Brüssel und der Opposition, die großen Parteien untereinander, das Parlament mit der Regierung.

Seit London und die EU sich auf eine Verschiebung des Brexit auf den 31. Oktober geeinigt haben, war es verdächtig ruhig in Großbritannien. Die Mahnung von EU-Ratspräsident Donald Tusk, die zusätzliche Zeit bitte nicht zu verschwenden, verhallte ungehört. Die Politik ging erst einmal geschlossen in die Osterferien, bewegt hat sich seither nichts. Die ungeliebte Premierministerin blieb im Amt, ihr Kabinett hat sie nach wie vor nicht im Griff. Fast täglich sickern Details aus der Regierungsarbeit an die Medien durch. Einig scheint man sich bei nichts zu sein. Alles beim Alten also.

Viel zu verlieren

Doch nun regt sich wieder etwas in der britischen Politik. Premier Mays Konservativen droht nach den Kommunalwahlen am Donnerstag ein böses Erwachen. Mehr als 8300 Gemeinderäte werden neu besetzt - und die Tories haben am meisten zu verlieren. Experten gehen davon aus, dass sie von rund 5000 Posten in der Lokalpolitik bis zu 1000 abgeben müssen. Davon profitieren würden vor allem Labour und die Liberaldemokraten: Sie könnten 500 beziehungsweise 300 Stellen dazugewinnen.

Auf gewisse Weise hat May das bei ihrer Rede in der Downing Street vor einem Monat vorhergesagt. "Die Leute haben genug", polterte sie da, "Sie haben genug von den Streitereien, den politischen Spielchen und davon, dass die Abgeordneten nur noch über den Brexit reden." Auf viele trifft das wohl zu. Sie haben nun die Gelegenheit, ihren Frust an die Urnen zu tragen - zum ersten Mal seit den beiden Brexit-Verschiebungen und dem folgenden Stillstand.

Zur Abrechnung mit May könnten auch die Europawahlen werden. Wenn die Premierministerin nicht bald eine Lösung für den EU-Austritt auf den Tisch legt, müssen die Briten am 23. Mai an den Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen. In den Umfragen liegt die neue Brexit-Partei von EX-Ukip-Chef Nigel Farage mit 28 Prozent an erster Stelle. Sie will einen harten Bruch mit Brüssel - am besten sofort. Die Tories rangieren mit 13 Prozent auf Platz drei hinter Labour (22 Prozent). Damit würde sich der alte Trend fortsetzen: Gingen die Tories bei den Europawahlen von 2009 noch als stärkste Partei hervor, kamen sie 2014 mit 23 Prozent nur noch auf Platz drei hinter Ukip (26,6) und Labour (24,4).

Mobilisierung ausschlaggebend

In Großbritannien werden die EU-Wahlen zu einer Abstimmung über den Brexit-Kurs der Parteien. Proeuropäische Labour-Politiker wollen den Wahlkampf nutzen, um für ein zweites Referendum zu werben: Egal, wie der EU-Austritt aussehen soll, müsste es noch einmal eine Volksbefragung geben. Das betrifft auch einen möglichen Deal Mays. Viele Labour-Politiker haben Angst, junge, proeuropäische Wähler zu verlieren. Doch Parteichef Jeremy Corbyn will sich nicht für ein zweites Referendum einsetzen.

Die Brexit-Partei von Farage hält sich indes nicht mit Details auf. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den EU-Austritt durchzuziehen. Wie es dann weitergehen soll wird nicht verraten, auch nach einem Parteiprogramm sucht man vergeblich. "Verändere die Politik für immer", lautet der Wahlslogan. Vielen Brexit-Befürwortern könnte das allerdings schon reichen.

Möglich ist aber auch, dass viele von ihnen diesmal zu Hause bleiben. Bei den Europawahlen 2014 lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 35 Prozent. Proeuropäische Politiker hoffen nun, ihr Lager mobilisieren zu können. Sie wollen die Europawahlen zum Stimmungstest für ein zweites Referendum machen. Gehen die proeuropäischen Kandidaten als Sieger hervor, so die Hoffnung, dann wird auch ein Referendum wahrscheinlicher. Am Ende könnten die Anhänger eines harten Bruchs mit der EU aber von der Zerrissenheit der Proeuropäer profitieren. Es gibt keinen überparteilichen Zusammenschluss, das liberale Lager ist fragmentiert, die neue "Independent Group" aus ehemaligen Tory und Labour-Abgeordneten hat keine Basis.

Kompromisssuche steht still

Verhindert werden kann eine Teilnahme an den EU-Wahlen nur, wenn sich die Regierung mit der Opposition rasch auf einen Kompromiss einigt. Bisher war keine der Parteien bereit, den alten Kurs zu verlassen und damit möglicherweise Wähler zu vergraulen. Einen Verbleib in der Zollunion der EU, wie sich Corbyn das wünscht, lehnte May bisher strikt ab. Laut britischen Medien ist die Regierung der Opposition jetzt aber entgegengekommen. Demnach soll bis Mitte nächster Woche ein Kompromiss stehen, die Gespräche seien "ernsthaft und konstruktiv", hieß es zuletzt aus der Downing Street.

May hat auch eingesehen, dass sie ihr Austrittsabkommen mit der EU so nicht durchs Unterhaus bringt. Scheitern auch die Gespräche mit der Opposition, will sie die Abgeordneten noch einmal über die Alternativen zum Brexit abstimmen lassen. Ein Verbleib in der Zollunion war beim letzten Mal knapp gescheitert, nun gilt es auszuloten, welche Mehrheiten im Parlament möglich sind.

Was das Land am wenigsten braucht, ist, dass die Abgeordneten ein weiteres Mal gegen alles stimmen. Für die Tory-Chefin wäre es ein echter Erfolg, wenn sie ihr Land vor der Farce einer Teilnahme an den Europawahlen bewahren könnte.