Zum Hauptinhalt springen

Das Modell der Spitzenkandidaten wackelt

Von Martyna Czarnowska aus Sibiu

Politik
Kanzler Kurz in Sibiu mit der EU-Außenbeauftragten Mogherini (l.) und Kanzlerin Angela Merkel.
© reu

Debatte um Postenbesetzungen in der EU nimmt ihren Lauf - Gipfel skizziert Strategie für Zeit nach der EU-Wahl.


Sibiu. Bürgernähe demonstrierten zumindest die Bürger. Als die Staats- und Regierungschefs der EU zu ihrem Gipfeltreffen auf der Piata Mare, dem zentralen Platz in Sibiu, eintrafen, standen die Bewohner an den Absperrungen Spalier. Sie hielten ihre Telefone zum Fotografieren bereit, schwenkten rumänische Fähnchen und klatschten, als die dunklen Limousinen der Reihe nach vorfuhren. Während in der 400 Kilometer weiter östlich gelegenen Grenzstadt Iasi die regierenden Sozialdemokraten am Donnerstag eine Großkundgebung zum Europatag abhielten, empfing der aus der Nationalliberalen Partei (PNL) stammende Staatspräsident Klaus Johannis die europäischen Spitzenpolitiker in Sibiu, der Stadt wo er jahrelang Bürgermeister gewesen ist.

Der politische Machtkampf in Rumänien wogt. Die Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalen wird auch international für umstrittene Justizreformen und geplante Gesetze zur Amnestie in Korruptionsfällen kritisiert. Johannis wiederum hat ein Referendum angesetzt, um diese Gesetzgebung zu stoppen. Die Abstimmung findet am Tag der EU-Wahl Ende Mai statt.

Auf der Piata Mare, auf seine Amtskollegen wartend, sprach der Präsident von der Zukunft der Union, von der Notwendigkeit, geeint und solidarisch zu sein, von einer gemeinsamen Strategie - und all das floss in die Schlusserklärung des Gipfels ein. Doch ebenso sprach Johannis von Bürgernähe. Die Europäische Union und ihre Einwohner seien nämlich ein wenig "auseinander gedriftet" - und müssten wieder zueinander finden. Und das EU-Votum biete eine Gelegenheit dazu. Die Wähler müssen wissen, dass sie mitbestimmen können, befand Johannis.

Er plädierte damit für das Spitzenkandidaten-Modell, das auch gute zwei Wochen vor dem Urnengang für Debatten sorgt und in Sibiu ebenfalls Thema war, etwa beim Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP), das dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs vorgelagert war. Die Parteienfamilie, der auch die PNL angehört, hat als Spitzenkandidaten den CSU-Politiker und EU-Abgeordneten Manfred Weber aufgestellt. Falls die EVP beim EU-Urnengang die meisten Stimmen erringt, hat der Deutsche Chancen, das Amt des EU-Kommissionspräsidenten zu übernehmen.

Ringen um Einfluss

Dieses Gewinner-Prinzip haben die Christ- und Sozialdemokraten im EU-Parlament beim letzten EU-Votum vor fünf Jahren durchgesetzt. Doch zum einen ist nicht klar, ob diese beiden Fraktionen auch im künftigen Abgeordnetenhaus die Mehrheit stellen werden. Zum anderen gibt es keinen Automatismus: Die Regierungen, die sich lange Zeit untereinander ausgemacht haben, wer die EU-Kommission leitet, müssen dem nicht zustimmen.

Widerspruch hat sich bereits geregt. Die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite erklärte, das Spitzenkandidaten-Modell sei "etwas außerhalb der demokratischen Verfahren" und sei in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Luxemburgs Premier Xavier Bettel bezeichnete den Mechanismus als "schlechte Entscheidung" von Anfang an. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron lehnt das System ab - solange es keine transnationalen europäischen Wahllisten gebe. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hingegen sicherte Weber seine Unterstützung zu.

Die Personalentscheidung ist eine von mehreren, die in den kommenden Monaten gefällt werden müssen. Die Posten der Präsidenten von Parlament, Kommission und Rat sowie die Spitze der Europäischen Zentralbank sind zu besetzen. Dabei gilt es, die Interessen der Länder, Regionen und Parteienfamilien zu vereinen. Mehr noch als in Sibiu wird dies zum Thema werden bei einem Sondergipfel, den EU-Ratspräsident Donald Tusk wenige Tage nach der EU-Wahl einberufen wird. Als Datum für das Treffen nannte er den 28. Mai.

Kurz möchte die Debatten aber für mehr als für Personaldiskussionen nutzen, wie er deklariert. Immerhin sollte der Gipfel in Sibiu dazu dienen, über die weitere Entwicklung der Gemeinschaft zu beraten. Ursprünglich war überhaupt eine Zukunftsdebatte über die Post-Brexit-Ära geplant, aber Großbritannien ist immer noch nicht aus der Union ausgetreten. So gaben die Spitzenpolitiker in ihrer Erklärung zehn allgemein gehaltene Versprechen ab, die sich eben um Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, um Solidarität und Einigkeit drehen. "Wir werden vereint durch dick und dünn gehen", heißt es in dem Dokument.

So manche Regierung wollte allerdings auch ihre eigenen Anliegen in die Beratungen einbringen. Macron etwa warb um neue Klimaziele für die EU. Ein entsprechendes Papier haben acht Mitgliedsländer unterzeichnet.

Kurz für Vertragsänderungen

Kurz wiederum machte sich für Vertragsänderungen stark. Es gebe keinen Grund, "selbstzufrieden" mit dem Status quo zu sein, betonte der Bundeskanzler. Vielmehr sei ein neues Fundament nötig, auf dem die Union im Wettbewerb mit Staaten wie China bestehen könne. "Ein neuer Vertrag, ein Generationenwechsel - das ist es, was wir brauchen", sagte Kurz.

Der Vorschlag stößt jedoch nicht auf ungeteilte Sympathie. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beispielsweise verwies darauf, dass die Gemeinschaft im Rahmen der bestehenden Verträge durchaus handlungsfähig sei. Schon jetzt sei ein Übergang zu Mehrheitsentscheidungen etwa in der Steuerpolitik möglich - dem müssten aber die Mitglieder selbst zustimmen.

Eine andere Variante wäre die Einberufung eines europäischen Konvents zur Änderung der Regelungen. In die Beratungen könnten dabei neben politischen Parteien auch Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft eingebunden werden. Sollte es dazu kommen, wäre parallel dazu ein Österreich-Konvent wünschenswert, wie es aus dem Bundeskanzleramt heißt. Das sehe das Regierungsprogramm vor.