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Ein breites Parteienbündnis für Ekrem Imamoglu

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

"Alles wird gut", sagt Istanbuls abgesetzter Wahlsieger seinen Anhängern.


Istanbul. Das abgesetzte Stadtoberhaupt der türkischen Metropole Istanbul, Ekrem Imamoglu, hat nach der beispiellosen Annullierung der Bürgermeisterwahl durch den Hohen Wahlrat (YSK) eine "Revolution" für Demokratie angekündigt. "Was wir jetzt machen, ist ein Kampf für Demokratie und eine Mobilisierung für Demokratie", sagte Imamoglu in mehreren Interviews mit Blick auf die Wiederholung der Wahl Ende Juni. "Wir wollen uns das zurückholen, was wir schon gewonnen haben." Bei der Neuwahl kann sich der Kandidat der sozialdemokratischen CHP auf eine vereinte Front der türkischen Opposition stützen. Dagegen schickt das Wahlbündnis der islamischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der rechtsextremen MHP erneut den lustlos wirkenden ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim ins Rennen.

Der YSK hatte am Montag nach massiven Beschwerden der AKP die Wahl vom 31. März annulliert und eine Wiederholung angeordnet, eine Entscheidung, die scharfe Kritik im In- und Ausland auslöste. Imamoglu hatte die Wahl knapp vor Yildirim gewonnen und nach Übernahme des Amtes erklärt, scharf gegen Korruption und Vetternwirtschaft alter AKP-Seilschaften vorgehen zu wollen. Die 16-Millionen-Stadt Istanbul mit ihrem jährlichen Milliardenbudget ist das Herzstück von Erdogans Klientelsystem, auf dem seine Herrschaft wesentlich ruht.

Ginge es nach normaler Wahlarithmetik, stünden die Chancen für die Opposition gut, denn einige kleinere Parteien haben inzwischen angekündigt, ihre eigenen Bürgermeisterkandidaten zurückzuziehen und Imamoglu zu unterstützen. Auch die prokurdische HDP bleibt ihrer Empfehlung treu, der Opposition gegen den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zum Wahlsieg zu verhelfen. Die Unterstützung der HDP, die in Istanbul auf rund zwölf Prozent der Wähler zählen kann, hatte am 31. März den Ausschlag für Imamoglus Triumph gegeben.

Stadtrivalen vereint

Ohnehin verzeichnet Imamoglu seit seinem Wahlsieg steigende Zustimmungswerte mit seinen Appellen an Versöhnung und Frieden. "Alles wird gut", lautet sein neuer Slogan, der bereits millionenfach in den sozialen Medien kursiert. Gleichwohl ist die Empörung über seine Absetzung enorm. Als die Basketball-Sektionen der Großvereine Fenerbahce und Galatasaray am Mittwoch beim Lokalderby aufeinander trafen, riefen tausende Fans: "Rechte, Gesetze, Justiz!".

Die Spitzen der Oppositionsparteien griffen zu harten Formulierungen, um den YSK zu kritisieren. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nannte das Gremium eine "Bande", Iyi-Chefin Meral Aksener sprach von einem "Putsch", die Entscheidung der Wahlkommission habe "keinen Funken demokratischer Legitimität".

Politische Beobachter haben kaum Zweifel, dass der YSK seine Entscheidung auf Weisung des Staatschefs Erdogan fällte. Erdogan hatte nach der Wahl zunächst den Eindruck erweckt, dass er den Wählerentscheid akzeptiere, am vergangenen Wochenende aber von "Betrug an der Wahlurne" gesprochen. Der YSK vermied in seiner offiziellen Begründung jedoch die Wörter Betrug oder Fälschung und gab als Grund der Annullierung an, dass 41 Wahlvorstände nicht wie gesetzlich vorgeschrieben Beamte gewesen seien. Doch es sei komplett unlogisch, nur die Wahlzettel, nicht aber die drei anderen Stimmzettel für das Stadtparlament, die Bezirksbürgermeister und Ortsvorsteher für ungültig zu erklären, kritisierten Oppositionspolitiker. Die CHP kündigte an, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Jahr nachträglich anzufechten, da damals die exakt gleichen Bedingungen herrschten.

Selbst Kolumnisten der regierungsnahen Blätter Yeni Akit und Karar kommentierten die YSK-Entscheidung als "Zusammenbruch der Logik" und "Verhöhnung der Wähler". Von Erdogan geschasste frühere AKP-Schwergewichte wie der Ex-Premier Ahmet Davutoglu, Ex-Präsident Abdullah Gül und Ex-Parlamentspräsident Bülent Arinc wagten sich offen mit Kritik aus der Deckung. Der fundamentale Wert türkischer Politik basiere darauf, dass der Wähler das letzte Wort habe. "Die Annullierung des Wahlergebnisses vom 31. März in Istanbul hat zur Zerstörung dieser Kernwerte geführt", erklärte Davutoglu auf Twitter, wo er mehr als 5,7 Millionen Follower hat. Die Oppositionszeitung Cumhuriyet meldete am Donnerstag, dass die bereits angekündigte Gründung einer neuen konservativen Partei durch Davutoglu in der nächsten Woche erfolgen solle.

Kandidiert Erdogan?

Da die Neuwahl sich zu einem Referendum über Erdogan und dessen politisches Überleben entwickle, äußerten mehrere Kommentatoren die Befürchtung, Imamoglu könne unter einem Vorwand eingesperrt oder seines passiven Wahlrechts beraubt werden. Die abenteuerlichste These besagt, dass Erdogan selbst als Bürgermeisterkandidat antreten und nach seinem Wahlsieg einen Vertreter einsetzen könnte.

"Alle Analysen der kommenden Wahl sollten mit der Frage anfangen: Wenn der YSK die Neuwahl genehmigte, was wird er noch genehmigen?", schrieb der Washingtoner Türkei-Experte Nicholas Danforth von der Georgetown Universität auf Twitter. "Warum die Wahlen nicht auf den St. Nimmerleinstag verschieben? Es sieht wirklich so aus, als ob alle Optionen, auch die unwahrscheinlichsten, jetzt auf dem Tisch liegen."