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Vestager: "Müssen zeigen, dass wir etwas ändern können"

Von Von Siobhan Geets

Politik

Um die EU-Bürger in wichtige Debatten einzubinden, müsse Brüssel seine Sprache ändern, sagt die Wettbewerbskommissarin, die bei der EU-Wahl als liberale Spitzenkandidatin antritt.


Wiener Zeitung: Kommissarin Vestager, Sie wollen als erste Frau die EU-Kommission leiten. Wird überhaupt einer der Spitzenkandidaten der großen Parteienfamilien Präsident der EU-Kommission?

Margrethe Vestager: Das Parlament hat klargemacht, dass es einen der Spitzenkandidaten zum Chef machen will. Das hält die Staats- und Regierungschefs aber nicht davon ab, ihren eigenen Kandidaten vorzuschlagen, wohl einen Premier – viele Frauen gibt es ja nicht. Man wird sehen, wie es dann weitergeht. Es geht darum, eine Einigung zwischen Rat und Parlament zu finden. Es braucht jemanden, der das Vertrauen beider Institutionen genießt, damit wir alle weiterkommen.

Die Mitgliedstaaten stellen das System der europäischen Spitzenkandidaten also in Frage. Funktioniert es überhaupt?

Prinzipiell ist es wichtig, dass der Rat und das Europäische Parlament sich auf einen Kandidaten einigen. Diese Institutionen sind Quellen unserer Demokratie, diese Doppelidentität ist gut für uns Europäer. Sie sollte sich auch in der Art wiederfinden, wie wir den Präsidenten der Kommission und die anderen Spitzenposten in der EU besetzen. Im Spitzenkandidatensystem kennen wir vielleicht nicht alle Kandidaten, es kann sein, dass plötzlich ein Regierungschef auftaucht und dann alle sagen: Ja, den brauchen wir. Wir brauchen diese Art der Flexibilität. Die europäische Demokratie kommt nicht aus dem Lehrbuch, sie ist flexibel.

Mit welchen Fraktionen kann sich die liberale Alde eine Zusammenarbeit vorstellen, wer steht Ihrer Fraktion am nächsten?

Es ist nicht die Zeit dafür, das festzulegen. Wir brauchen eine breite Koalition, die sich in den fundamentalen Dingen einig ist. Einige dieser Fundamente sind in Gefahr: etwa Rechtsstaatlichkeit oder Pressefreiheit. In manchen EU-Ländern fühlen sich die Menschen im Stich gelassen. Haben wir uns einmal auf wichtige Eckpfeiler geeinigt, müssen wir auch unsere Differenzen zulassen. Man kann kein Fünf-Jahres-Programm in wenigen Wochen beschließen. Das wäre nicht konstruktiv.

Welchen Beziehungsstatus hat die Alde-Fraktion mit dem französischen Präsidenten Macron?

Ich bin nicht auf Facebook, also habe ich Probleme mit der Metapher vom Beziehungsstatus. Ich sehe viele Gemeinsamkeiten und eine gewisse Zugehörigkeit, aber auch unterschiedliche Ansichten. Das ist aber bei der Alde, einer breiten Bewegung, nichts Neues.

Die Sozialdemokraten sprechen von einer progressiven Allianz von Tsipras bis Macron, um der Europäischen Volkspartei die Führung zu entreißen. Wären die Liberalen da auch dabei?

Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen, was passieren wird, bevor die Wahlen überhaupt stattgefunden haben. Das macht es sehr schwer, mögliche Mehrheiten zu sehen. Wir sollen später darüber reden.

Tut die EU genug für die Sicherheit seiner Bürger? Brauchen wir etwa eine europäische Armee?

Wir müssen besser auf uns achten. Vielleicht ist das Label einer EU-Armee für viele beunruhigend, weil sie eine traditionelle Armee vor Augen haben. Doch wir können einander mit der Perspektive einer gemeinsamen Sicherheitspolitik innerhalb des Rahmens der Nato besser unterstützen und gegenseitig helfen. Cybersecurity ist ein wichtiges Thema, es besteht Gefahr für unsere Demokratie, für die Infrastruktur und anderes, das essenziell ist für unsere Gesellschaft. Wir könnten uns hier besser wehren. Auch die Ausgaben für unser Militär können besser angelegt werden. Im Vergleich mit den USA bekommen wir wenig für unser Investment, weil wie so viele verschiedene militärische Systeme haben.

Einige US-Konzerne, darunter Google, haben insgesamt rund 425.000 Euro an die Alde-Fraktion gespendet. Gerät Ihre Fraktion da nicht in einen Interessenskonflikt? Immerhin haben Sie als Wettbewerbskommissarin gegen solche Tech-Giganten gekämpft...

Ich hatte damit nichts zu tun. Die Partei hat außerdem beschlossen, das zu stoppen.

Die EU, sagen Sie selbst, muss transparenter werden. Doch viele halten die Ernennung des Deutschen Martin Selmayrs zum Kabinettschef Junckers, die überraschend schnell ging, für eine geschobene Partie...

Das Parlament und die Kommission haben viel getan, um diesen Prozess aufzuarbeiten und Besetzungsprozeduren transparenter zu gestalten. Die Menschen müssen genau überprüft werden. Mit meiner Aussage meine ich: Auch nach fünf Jahren kann ich kaum alle meine Briefings lesen. Sie beinhalten Abkürzungen mit vier bis fünf Buchstaben, das lädt nicht gerade zum Lesen und Verstehen ein. Wir brauchen eine Sprache, die die Menschen dazu einlädt, sich an der Debatte zu beteiligen, anstatt uns hinter Akronymen zu verstecken, die keiner versteht. Es entsteht der Eindruck, dass auch jene, die sie nutzen, sie nicht versteht.

Sie haben auch gesagt, dass wir endlich anfangen müssen, ernsthaft über Probleme in der EU zu sprechen. In vielen kleineren Mitgliedstaaten wie Lettland fühlen sich die Menschen vom westlichen Teil der EU nicht verstanden, vor allem im Bereich Sicherheit. Wie wollen Sie alle zusammenbringen?

Im Gespräch mit Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgeber, NGOs und Konsumentenschützer lerne ich sehr viel. Ich gestehe, ich bereue es sehr, dass ich nicht mehr außerhalb der EU-Zentren gereist bin. Wenn man Menschen kennenlernt, dann versteht man sie besser. Sie haben Recht, die Geografie bestimmt unsere Prioritäten. Hat man einen Nachbarn, der nicht zur EU gehört, dann stehen die Dinge anders.

Viele kleine EU-Länder haben Angst, noch unbedeutender zu werden, wenn sich Deutschland und Frankreich nach dem Brexit wieder vieles untereinander ausmachen. Ist diese Angst berechtigt?

Ich teile die Ansicht, dass nach dem Brexit ein Vakuum entsteht. Das muss gefüllt werden, weil sonst alles implodiert. Die teils kritisch-konstruktive, teils energiegeladene Rolle Großbritanniens war lange Teil der Dynamik in der EU. Dieser Raum muss durch andere gefüllt werden. Vielleicht können das kleine Mitgliedstaaten übernehmen, die Interessen teilen. Das müssen nicht immer dieselben Koalitionen oder Mitgliedstaaten sein, aber wir können nach dem Brexit eine dynamische Union schaffen. Das braucht es auch, denn die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland wird auch durch andere angetrieben, die sich kritisch einbringen.

Das gemeinsame Asylsystem in Europa funktioniert nicht. Wie können die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten beigelegt werden?

Ich habe mich erst gerade als Spitzenkandidatin für den Posten des Kommissionspräsidenten beworben, daher habe ich noch nicht für alle Themen Pläne. Aber Sie haben Recht, wir müssen diesen Stillstand überwinden und uns fragen, wie Solidarität möglich wird. Wir brauchen ein gemeinsames Asylsystem, aber das verlangt nach einer rechtlichen Basis, der jeder zustimmt.

Als EU-Kommissar für Rechtsstaatlichkeit droht Frans Timmermans der rumänischen Regierung mit einem Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel sieben. Ist das genug, um Mitgliedstaaten zur Pflicht zu rufen oder braucht es andere Maßnahmen?

Timmermans hat die gesamte Kommission hinter sich stehen, wir haben das wieder und wieder besprochen. Es ist wichtig, dass die Bürger in Rumänien das auch so sehen. Jede Mitgliedschaft in der EU ist eine volle Mitgliedschaft. Kein Land kann sagen: Ich halte dieses Versprechen ein, aber den Rest nicht. Bricht man Versprechen, hat das Konsequenzen. Das betrifft jedes Land. Das System funktioniert für alle. Keiner kann sagen: Wir nehmen die Förderungen, halten aber die Rechtsstaatlichkeit nicht ein.

Wie würden Sie als nächste Kommissionspräsidentin die EU-Skeptiker etwa in Tschechien überzeugen, dass die EU ihr Leben verbessert?

Es überrascht mich sehr, dass in Tschechien EU-Skepsis so weitverbreitet ist. Wir müssen hier, wie überall sonst auch, zeigen, dass wir uns ändern können. Die nächste Kommission sollte zur Hälfte von Frauen besetzt sein. Nur durch solche Änderungen beweist man, dass man auch sein Denken ändern kann.

Die Antikorruptionsbehörde der EU Olaf ermittelt gegen die Slowakei, der letzten Regierung wird vorgeworfen, EU-Gelder missbraucht zu haben. Wie würden Sie sicherstellen, dass so etwas künftig nicht mehr passiert?

Das ist genau mein Thema. Gegen Politiker, das müssen wir zeigen, kann auch ermittelt werden. Wird klar, dass sie betrogen haben, gibt es Konsequenzen. Das Beispiel zeigt, dass wir ein System haben, das Missbrauch von Förderungen und Betrug aufdeckt. Das System funktioniert und die Zahlen des Missbrauchs gehen zurück. Das zeigt, dass das Wissen darüber wächst, wie Gelder genutzt werden dürfen. Olaf ist sehr gründlich und sie machen keine Kompromisse bei der Frage, wo die Steuergelder hinfließen.

Am Westbalkan droht die Situation auch deshalb zu eskalieren, weil es keine echte Perspektive für einen EU-Beitritt gibt...

Diese Perspektive ist wichtig. Es gibt deswegen auch viele positive Entwicklungen. Die nächste Erweiterung wird aber schwieriger werden als die letzte, das waren andere Zeiten und andere Staaten, alle wissen das. In einem Monat werden wir darüber sprechen, wie es weitergeht. Vielleicht werden die Staaten nach und nach beitreten, es handelt sich ja auch um sehr unterschiedliche Nationen. Wenn sie die Kopenhagener Kriterien erfüllen gibt es aber die Aussicht auf einen EU-Beitritt.

Sie wollen die großen digitalen Konzerne besteuern. Was hat Brüssel im Kampf gegen Fake-News erreicht?

Es dauert sehr lange, neue Gesetze zu beschließen. Bis dahin würden noch andere Wahlen stattfinden. Es gibt eine Kooperation mit den großen Plattformen, aber auch das hat lange gedauert. Wir sehen erst jetzt die Effekte davon. Das betrifft vor allem die Löschung von illegalen Inhalten, aber auch den Kampf gegen Desinformation. Wir haben das in der Kommission viel debattiert. Einige meiner Kollegen haben noch Zensur durch den Staat erlebt, wir suchen also nach einer Balance. Wir müssen eine offene Debatte führen.

Das Interview fand zusammen mit anderen Journalisten im Europäischen Parlament in Brüssel statt.