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Grünen-EU-Spitzenkandidatin Ska Keller: "Wir wissen, was zu tun ist"

Von Siobhán Geets aus Brüssel

Politik

Die grüne EU-Spitzenkandidatin will die Unterstützung ihrer Fraktion für den künftigen EU-Kommissionschef davon abhängig machen, wie dieser zum Kampf gegen den Klimawandel steht.


"Wiener Zeitung":Die Europawahlen haben auch Einfluss auf die Besetzung des EU-Kommissionschefs. Wie stehen die Chancen auf eine Allianz der Grünen mit der liberalen Alde-Fraktion, Emmanuel Macrons "En Marche" und anderen progressiven Parteien?

Ska Keller: Wir sind die Grünen, die echten Grünen. Wir stehen zu unseren Überzeugungen, die sich in vielen Punkten wesentlich von jenen der anderen Fraktionen unterscheiden. Auch, wenn jetzt alle über das Klima sprechen - was ja an sich gut ist -, sind wir doch die Einzigen, die im Europaparlament konsequent im Sinne des Klimas abstimmen.

Sie sind gemeinsam mit dem Niederländer Bas Eickhout Spitzenkandidatin der Grünen Fraktion, haben aber keine Chancen, Kommissionspräsidentin zu werden. Welchen der anderen Kandidaten würde Ihre Fraktion unterstützen?

Das hängt ganz von deren konkreten Vorschläge ab. Wir werden niemanden unterstützen, der keine Ideen dazu hat, wie man den Klimawandel bekämpfen oder die europäische Agrarpolitik verbessern kann.

Viele grüne Themen sind im Mainstream angekommen. So wollen auch Liberale und Sozialdemokraten gegen den Klimawandel vorgehen. Haben die Grünen ihre politische Legitimität verloren?

Nein, denn es herrscht keine Einigkeit. Die Lösungen, wenn überhaupt welche angeboten werden, sind sehr unterschiedlich. Die konservative EVP etwa hat überhaupt keine Lösungen, sie sagt zu allem Nein. Und das Abstimmungsverhalten der Sozialdemokraten in Sachen Klimapolitik im Europarlament ist auch nicht gerade hilfreich. Auch die Liberalen haben immer wieder gegen Klimaschutz gestimmt; zum Beispiel gegen strengere CO2-Grenzwerte für Autos. Wir sind die Einzigen, die immer schon gegen den Klimawandel gekämpft haben. Wir sind nicht beunruhigt, sondern froh, dass das Thema endlich Mainstream ist.

Junge Menschen demonstrieren weltweit für eine andere Klimapolitik. Rechnen Sie damit, dass sich der Protest auf die Ergebnisse der Europawahlen niederschlägt?

Diese Klimabewegung ist sehr stark und unabhängig, wir sehen aber, dass die Unterstützung für die Grünen wächst - zuletzt etwa in Finnland (die Grünen haben dort bei den Wahlen Mitte April drei Prozentpunkte zugelegt, Anm.).

Sie wollen für mehr Gerechtigkeit in der EU sorgen. Wie wollen Sie das als kleine Fraktion erreichen?

Es geht uns um mehr soziale Gerechtigkeit, um Steuergerechtigkeit aber auch um Fairness, was das Klima betrifft. Das hängt alles zusammen. So sind etwa arme Menschen am stärksten von der Klimakrise betroffen. Auch in den Antworten auf den Klimawandel dürfen wir nicht vergessen, dass Arme viel weniger CO2-Emissionen produzieren als Reiche. Deshalb wollen wir einen Fixpreis für diese Emissionen einführen. Die Einnahmen aus dieser Steuer wollen wir pro Kopf an alle Menschen in Europa zurückzahlen. Zum Thema Steuergerechtigkeit: Momentan zahlen viele Großkonzerne in der EU so gut wie keine Steuern. Wir müssen die großen Digitalkonzerne besteuern, die auch in der EU Profit machen. Zudem muss der Kampf gegen Steuerflucht ernsthaft angegangen werden.

Bei Steuerfragen müssen die Mitgliedstaaten einstimmig entscheiden. Die EVP will keinen einheitlichen Steuersatz, Spitzenkandidat Manfred Weber spricht von der Erhaltung des Steuerwettbewerbs.

Das soll er mal den Wählerinnen und Wählern erklären. Wir werden weiter für Steuergerechtigkeit kämpfen. Dafür haben wir schon einiges durchs Parlament bekommen; mehr Transparenz zum Beispiel, damit Unternehmen offenlegen müssen, wo sie Mitarbeiter haben und wo sie Umsatz machen und wie viel.

Die Rechtsparteien werden wohl dazugewinnen, das Parlament noch fragmentierter werden...

Warten wir die Wahlergebnisse ab! Alle reden vom Aufstieg der Rechten, in Finnland haben alle geglaubt, dass sie dazugewinnen, aber das ist nicht geschehen.

Die "Wahren Finnen" sind aber nach wie vor zweitstärkste Kraft.

Ja, es gibt eine reale Gefahr vonseiten der Rechten in Europa. Aber wir können etwas dagegen tun, es gibt Gegenbewegungen. Jeder und jede Einzelne hat die Wahl. Ich bin aus Ostdeutschland, wo viele sagen, sie wählen rechts, aber nicht wegen der Migration, sondern weil sie sich nicht wahrgenommen fühlen. Die echten Probleme dieser Menschen sind etwa die Angst um die Zukunft, um ihre Arbeitsplätze. Sie sehen, wie ihre Kinder wegziehen, weil sie keine Perspektiven haben. Viele Städte sterben aus, es gibt keine ordentliche Infrastruktur.

Es besteht die Sorge, dass der Wandel zu einer umweltfreundlicheren Gesellschaft Arbeitsplätze kostet. Wie wollen Sie das verhindern?

Sogar die Europäische Kommission, die nicht in Verdacht steht, besonders grün zu sein, rechnet bei einem Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft EU-weit mit einem Plus von 700.000 Arbeitsplätzen. Ich bin aus einer Kohlestadt an der deutsch-polnischen Grenze, wo seit langem klar ist, dass die Minen geschlossen werden, aber die Regierung sagt nicht, wann. Das schadet der gesamten Region und sorgt für große Unsicherheit. Die Arbeitsplätze wurden schon in den vergangenen Jahrzehnten weniger, die Kohleregionen sind immer die ärmsten in den Ländern. Gleichzeitig ist die Kohleindustrie häufig der einzige Arbeitgeber. Wir dürfen die Menschen, die von ihr abhängig sind, nicht vergessen. In Griechenland gibt es einen einzigen grünen Bürgermeister, der regiert in einer Kohlestadt. Er bringt alle zusammen, die Kohlearbeiter, die Arbeitgeber, sie arbeiten an einem Plan für die Zukunft. Das könnten wir auch tun. In meinem Herkunftsort im Südosten Brandenburgs gibt es nicht einmal funktionierendes Internet. Es sollte in die Infrastruktur investiert werden, in Zugverbindungen oder Internetanschlüsse. Der Staat kann da viel tun.

In Deutschland steht die Autoindustrie vielen Vorschlägen zu mehr Nachhaltigkeit im Weg. Sie sorgt für rund 800.000 Arbeitsplätze. Stellen die Betriebe auf Elektromotoren um, gehen viele davon verloren. Was kann man hier tun?

Das Problem ist, dass die deutsche Autoindustrie überhaupt nicht in E-Mobilität investiert. Viele Länder, sowohl in Europa als auch weltweit, wollen Autos mit fossilen Motoren bald nicht mehr zulassen - der Markt für sie schrumpft also rasant, gleichzeitig wächst der Markt für E-Autos. Will man in Deutschland so ein Auto, muss man einen Tesla kaufen oder einen Südkoreaner. Wo ist die deutsche Autoindustrie hier geblieben? Will sie Arbeitsplätze sichern, muss sie sich umorientieren. Aber die Industrie liebt ihre fossilen Motoren und die Regierung unterstützt sie. Sie geht viel zu sanft mit der Autoindustrie um.

Wie wollen Sie die EU demokratischer gestalten?

Früher dachten wir: Sobald ein Land der EU beitritt, hat es bereits das Höchstmaß an demokratischen Standards erreicht. Jetzt stellt sich heraus, dass es oft anderes gekommen ist und wir Instrumente brauchen, um gegen die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit vorzugehen. Artikel sieben (Einleitung eines Strafverfahrens wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, Anm.) kommt erst zum Zug, wenn es zu spät ist. Nicht hilfreich ist auch, dass Konservative und Sozialdemokraten bei Rechtsstaatlichkeitsverletzungen in den Mitgliedstaaten die Schuld auf die jeweils anderen schieben. Wir Grünen wollen ein unabhängiges Komitee, das die Lage in den EU-Ländern ständig im Blick hat und regelmäßig Bericht erstattet. Gibt es Entwicklungen in die falsche Richtung, könnte dieses Komitee Vorschläge zu Sanktionen machen.

Wann werden wir das Klimaproblem gelöst haben?

Die Forscher sagen, wir haben noch zwölf Jahre, mit Glück auch 20, um Weichen zu stellen. Wir sollten aber nicht mit unserer Zukunft spielen, sondern gleich handeln. Die gute Nachricht ist, dass wir wissen, was zu tun ist. Wir müssen es nur tun.