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Das unvollendete Abenteuer

Von Martyna Czarnowska

Politik
© WZ-Illustration: Irma Tulek

Irgendwo zwischen dem herzensnahen und dem kaltfremden Europa bewegen sich unsere Vorstellungen von der EU. | Und der Kontinent wird auch nach der EU-Wahl auf der Suche nach sich selbst bleiben.


Wien. "Ach Europa!" Ein Seufzer war titelgebend für das Buch, das Hans Magnus Enzensberger vor gut dreißig Jahren veröffentlichen ließ. "Wahrnehmungen aus sieben Ländern" hat er darin verpackt, Erzählungen von Menschen und Gedanken, die während seiner Reisen entstanden sind. Einem neugierigen Wanderer gleich und Reporter, der noch die Zeit dafür hatte, traf der deutsche Schriftsteller und Dichter Berufskollegen, Intellektuelle, Politiker, Verschwörungstheoretiker und Arbeiter oder ließ sich einfach treiben und von Bekannten von Bekannten aufs Land fahren, weil es sich ja auch gehört, sich in der Provinz umgesehen zu haben.

Die Ränder Europas interessierten Enzensberger: Schweden und Norwegen, Spanien und Portugal, Ungarn und Polen. Auch Italien war dabei - zum damaligen Zeitpunkt der einzige Staat unter den bereisten Ländern, der Mitglied der EU war.

Mittlerweile ist Norwegen das einzige dieser Länder, das nicht der Gemeinschaft angehört. Und wie sehr hat sich Europa auch sonst verändert. Die Dissidenten und Oppositionellen, die unterm sozialistischen Regime nur im Untergrund tätig sein konnten, wurden zu demokratisch gewählten Staats- und Regierungschefs. Peseta, Escudo und Lira wurden durch den Euro ersetzt. Passkontrollen sind im Schengen-Raum abgeschafft.

Und wie wenig hat sich Europa in manchen Bereichen verändert. Die Gedanken zu den ungarischen "Volkstümlern", wie Enzensberger eine Fraktion bezeichnet, die sich um Bevölkerungsschwund und Überfremdung der einheimischen Kultur sorgen, sind noch immer nicht obsolet. Auch jene nicht zur ideologischen Einflussnahme der katholischen Kirche auf die Politik in Polen. Ebenso wenig jene zu den Alleingängen der Italiener, die nur geringe Verantwortung für das gemeinsame Ganze übernehmen wollen. Bei allen Verallgemeinerungen aber klingt im Buch Sympathie für die Eigenheiten und Unterschiedlichkeiten der Europäer durch.

© WZ Online

Die erhält sich der Autor auch Jahrzehnte später, selbst wenn sich sein Europa-Seufzer in Unmut verwandelt hat. In einem Essay schreibt Enzensberger 2011 vom "sanften Monster Brüssel" und geißelt die EU-Bürokratie mit ihrer gewaltlosen Vormundschaft, die nur zu unserem Besten uns daran hindern will, dass wir
rauchen, zu viel Fett und Zucker essen, Kruzifixe in Schulzimmern aufhängen und illegale Glühbirnen in unsere Lampen schrauben.

Irgendwo dazwischen, zwischen Begeisterung für ein europäisches Projekt und Ablehnung einer abgehobenen Elite, zwischen dem herzensnahen und dem kaltfremden Europa bewegen sich unsere Vorstellungen von der EU. Auch sie haben Einfluss auf das Wahlverhalten der EU-Bürger, die gerade einmal alle fünf Jahre dazu aufgefordert sind, für ein - von den meisten Hauptstädten aus betrachtet - fernes EU-Parlament zu stimmen, das einmal in Brüssel und einmal in Straßburg tagt. Falls sie überhaupt daran Interesse zeigen: Die Beteiligung am Votum sinkt kontinuierlich; 2014 betrug sie nicht einmal 43 Prozent.

Den Namen des Parlamentspräsidenten kennen etliche Menschen sowieso nicht, kompliziert wirkt das Zusammenwirken der EU-Institutionen bei der Gesetzgebung. Das Abgeordnetenhaus hat zwar mittlerweile mehr politische Mitsprache als in seinen Anfängen, doch ist es die EU-Kommission, die Gesetzesentwürfe vorlegt. Das Gremium der Mitgliedstaaten, der Rat, muss diesen zustimmen - oder kann sie auch torpedieren. In mühsamen Verhandlungen zwischen diesen drei Organen nehmen die neuen Regelungen Gestalt an. Es kann Jahre dauern, wie bei der Errichtung der Bankenunion, die ein gesundes
Finanzwesen hervorbringen soll, und es kann schiefgehen, wie bisher bei den Bemühungen um eine Reform der Asylpolitik.

Für Populisten und Nationalisten ist es da nicht schwer, mit vermeintlich einfachen Lösungsvorschlägen negative Gefühle zu verstärken: Die EU verstehe unsere Bedürfnisse und Interessen nicht, wir bräuchten mehr Souveränität, und wir müssten uns überhaupt unser Land zurückholen sowie verteidigen vor den schädlichen Einflüssen der Bürokraten aus Brüssel und der Immigranten aus anderen Kontinenten - oder auch aus dem Nachbarland. Kaum dagegen bestehen können wolkige Formulierungen vom Friedensprojekt Europa, wie sie von manchen Christ- oder Sozialdemokraten kommen. Auf Sorgen der Menschen, die instabile Arbeitsmärkte, die Digitalisierung, Marginalisierung, soziale Klüfte und wachsende Unsicherheiten betreffen, gehen sie nämlich selten ein.

Das Nationale dominiert

Dass sich etliche Menschen
nationalen oder regionalen Belangen zuwenden, erscheint da nachvollziehbar - zumal nicht europäische, sondern eben nationale Parteien beim EU-Votum zur Wahl stehen. In Deutschland drehte sich die Debatte zuletzt um Pensionserhöhungen, ein Thema, das nicht in die Kompetenz der EU fällt. In Großbritannien war der Urnengang vom innenpolitischen Brexit-Chaos überschattet, in Österreich ist es die Ibiza-Affäre. Die europäische Wahl wird hier zum Testlauf für die nationale im Herbst, ähnlich wie in Polen, Griechenland, Dänemark und Belgien, wo ebenfalls bald über die jeweiligen Parlamente abgestimmt wird.

Es hat auch seine Richtigkeit, dass die Regierungen auf den Prüfstand gestellt werden. Denn sie sind es, die im Rat in Brüssel gemeinsam die Richtung vorgeben, in die sich die EU bewegen soll. In etlichen Fällen mehr als die EU-Parlamentarier.

Dieses Ineinanderfließen macht die EU-Wahl dann doch wieder zu einer europäischen Entscheidung. Denn die Debatten rund um soziale Absicherung, Migration, Wettbewerb, das Gefühl des Ausgeschlossenseins werden nicht nur in einzelnen Ländern geführt. Vielmehr wollen - vor allem am rechten politischen Rand angesiedelte - Populisten quer durch Europa die
Deutungshoheit darüber erlangen, während sich links davon stehende Parteien auf die Errungenschaften einer liberalen Demokratie berufen. So zeigen sich
die Risse nicht so sehr zwischen den Mitgliedstaaten, sondern innerhalb derer. Paradoxerweise ist der Nationalismus ein paneuropäischer Trend. Nun können die Unionsbürger also entscheiden, ob sie diese oder die anderen Kräfte stärken, ob sie dem EU-Parlament einen EU-skeptischen Rechtsruck versetzen oder doch den EU-freundlichen Gruppierungen den Vorzug geben. Wie viel Wert legen sie auf eine offene Gesellschaft und wie viel auf Sicherheit? Wie viel Gewicht legen sie auf das gemeinsame Ganze? Wollen sie es auf wirtschaftliche Angelegenheiten beschränken, weil im Wettbewerb mit China und den USA Deutschland allein, Frankreich allein, Österreich allein kaum bestehen kann?

Herumtreiber und Kolonisator

Ein Endspiel um Europa wird es dennoch nicht, auch dieses Mal nicht. Eine finale Entscheidung um die künftige Gestalt der EU wird nicht fallen. Wie die Europäer selbst wird auch der Kontinent weiterhin auf der Suche nach sich bleiben. Es steckt in seinem Wesen, nicht klar umrissen, nicht durchdefiniert zu sein. Um dieses Nicht-Festlegbare kreisen die meisten älteren Europa-Mythen, worauf der polnische, nach Großbritannien emigrierte Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman hinwies.

Es fing schon mit der Entführung der Prinzessin Europa, Tochter des Königs Agenor, durch Zeus an. Der Herrscher von Phönizien schickte zur Rettung des Kindes seinen Sohn Kadmos los. Das Unterfangen blieb fruchtlos, das Orakel von Delphi riet, die
Suche abzubrechen. Aber die
Erforschung des neuen Gebiets, Europas, begann.

Bauman beschrieb die Europäer unter anderem als Abenteurer und Entdecker, als Herumtreiber und Kolonisatoren, deren Neugier sich in Unterdrückung verwandeln kann. Europa selbst findet und verliert sich in der Zwischenzeit immer wieder - und
der Entstehungsprozess ist die Suche.

Sein Buch betitelte Bauman: "Europa: Ein unvollendetes Abenteuer".